"Wagalaweia" und Wachs: Die "Brünnhilde" aus dem Zürcher Schauspielhaus (Wiebke Mollenhauer) beim Kerzengießen.

Foto: Sabina Boesch

In Nibelheim, dem traditionellen Wohnsitz von Richard Wagners Nibelungen, herrscht für gewöhnlich emsiges Treiben. Ein Volk von unsichtbaren Proletariern schürft dort, in rätselhafter Abgeschiedenheit von Göttern und Menschen, nach Gold und anderen Bodenschätzen. Ihr Schicksal bildet nicht das einzige Rätsel einer Tetralogie, die der Autor Necati Öziri so, 146 Jahre nach ihrer Bayreuther Uraufführung, nicht mehr stehenlassen will.

Gemeint ist Der Ring des Nibelungen. Ihn hat man jetzt, wegen angeblicher ideologischer Borniertheit, am Zürcher Schauspielhaus mit dem Wokeness-Hammer in Form geklopft. Weitergerollt ist das Kleinod dieser Tage zu den Wiener Festwochen. Und weil es mit unterirdisch gelagerten Ideenvorkommen nicht weit her ist, hat Regisseur Christopher Rüping in der Halle E des Wiener Museumsquartiers eine Produktionsstätte für Wachskerzen eingerichtet (Bühnenbild: Jonathan Mertz).

Schmucke Zylinder

Wachs wird hier in einer langen Fertigungszeile in einen Trichter geschüttet, gefärbt und in schmucke Metallzylinder gegossen. Die Umstände für einen neu zu erzählenden Ring des Nibelungen haben sich seit der ersten industriellen Revolution erheblich verändert.

Heutige Arbeiter am Ring sind kolossal gutgelaunte Twentysomethings. Sie schütteln sich zu Trip-Hop-Beats von Black Cracker (Name des DJs) alle hochkulturellen Verspannungen mit Leichtigkeit aus den Gliedern. Keine Rede mehr davon, dass Alberich die Liebe verflucht, um das Gold der Rheintöchter zu erraffen und in die Schmiede zu tragen.

Wagner, der antisemitische Komponist mit dem Samtbarett, war womöglich ein Ekel von Mensch und gewiss ein inkommensurables Genie. Wagner ersann einst ein neuartiges, hochkomplexes Beziehungsgeflecht aus Göttern und Märchengestalten. Es schien flexibel genug, um die Entstehung der modernen Industriegesellschaft, mit allen Webfehlern und Schurkereien, sinnfällig nachzuerzählen.

Heute tritt ein junger Mann in schicker "Streetwear" an die Rampe. An ihn, den Autor Öziri, habe Regisseur Rüping die Einladung ausgesprochen, "den Ring zu machen". Man inszeniert ein solches Monumentalwerk nicht etwa, zertrümmert es auch nicht. Man macht es.

Echt fett, möchte man nach Necati Öziris Einleitungsmonolog sagen! Ring-Stoff gibt’s irgendwie so nebenbei halt, unter günstigen Konditionen, zum Beispiel ohne die lästige, 16 Stunden unablässig tönende Musik. Die "Leitmotive", die konstitutiven Elemente des erst in Bayreuth endgültig realisierten Orchestermischklangs, die "unendliche Melodie": alles uncool. Weil man heute nichts mehr fürchtet, als Menschen mit geringer entwickeltem Kulturappetit ins Bockshorn zu jagen, lädt man Wagner lieber gleich von seiner eigenen Party aus.

Lauter Behauptungsriesen

Öziri läuft mit dieser Vermeidungsstrategie natürlich offene Bühnentüren bei allen Kostverächtern ein. Allein schon diese "bescheuerten Namen", Wotan, Donner, Froh. An der Walküren-Front: Roßweiße, Schwertleite, Grimgerde. Rüping und sein Textdichter haben sich jetzt für eine Abfolge todlangweiliger Monologe wichtiger Ring-Protagonisten entschieden. "Erda" (Yodit Tarikwa) darf den Anfang machen. Sie liest als "Mummy Nature" allen Ausbeutern gehörig die Leviten. Die Nornen geben ihr hinter Schleiern aus Silberlametta das Geleit.

"Alberich" (Nils Kahnwald), eigentlich ein ansehnlicher junger Mann, leidet unter Hässlichkeit. "Brünnhilde" (Wiebke Mollenhauer) beklagt dafür das unersprießliche Sitzen auf Papa Wotans Götterschoß. Die ganze Gesellschaft besteht aus aufgekratzten Behauptungsriesen. Gespielt wird, was die Mittel der Selbstdarstellung hergeben.

Leider unterscheiden sich die Verstimmungen dieser Kerzengießer nicht von den üblichen Wehwehchen. Identitätspolitisch war "Wotan" bei Wagner in Widersprüche verstrickt: der tragische Held als echte Niete. Hier jedoch, als alter, weißer Choleriker mit geringer Frustrationstoleranz (Matthias Neukirch), der unmäßig herumbrüllt und ein Faschingskostüm aufträgt, empfiehlt er sich nicht unserem Interesse. Er bedürfte eines Paartherapeuten. Maja Beckmanns sanfte "Fricka" ist ihm, trotz notorischer Vernachlässigung, hoffnungslos treu.

Zeit, eine Verlustanzeige aufzugeben: Man durfte Wagners Geist aus Öziris/Rüpings Händen empfangen. Wer wollte, durfte nach dreieinhalb Stunden die Bühne erklimmen und sich, unter gutem Zureden der Mitwirkenden, eine Wachskerze abholen. Das Geschenk gleicht einer Ausflucht. Wem Wagner nichts zu sagen weiß, der bildet einen Lichterkreis. (Ronald Pohl, 2.6.2022)