Nach einem gestohlenen Frühling dürfen die Schanghaier sich wenigstens noch am Juni erfreuen – den letzten Wochen, bevor es in der chinesischen Metropole unerträglich heiß und schwül wird. Das Schlimmste ist vorüber. Die allermeisten Einwohnerinnen und Einwohner dürfen nach rund zwei Monaten wieder ihre Wohnungen verlassen.

Die beliebteste Aktivität: Haare schneiden lassen. Tausende Menschen suchten Anfang der Woche einen Friseur auf, der im Freien seiner Arbeit nachgehen durfte. Weil Bars und Restaurants bis auf weiteres geschlossen bleiben müssen, fanden auf zahlreichen Straßen der 26-Millionen-Einwohner-Stadt spontane Feiern im Freien statt. Seit Mittwoch fahren auch die öffentlichen Verkehrsmittel wieder und Supermärkte sind geöffnet.

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Barrikaden eingerissen

Auf der chinesischen Social-Media-Plattform Weibo trendet derzeit der Hashtag "Schanghai ist zurück". Darunter sieht man Videos von Feuerwerken und tanzenden Menschen – sogar von Leuten, die mit Hämmern Holzbarrikaden einreißen. Anders als in den vergangenen Wochen scheinen die Zensoren dabei stillzuhalten, will die Regierung doch die rabiate Zero-Covid-Strategie als Erfolg verkaufen. Gleichzeitig aber zensieren die Behörden den Begriff "Lockdown". Auch "Ende des Lockdowns" ist tabu. Stattdessen soll von "statischem Management und vorübergehenden Stilllegungen" gesprochen werden.

Nicht viel erfährt man von dem hohen Preis, den die 26 Millionen Menschen dafür zahlen mussten. Noch immer dürften sich mehrere Hunderttausend Menschen in sogenannten "Fangcang-Krankenhäusern" befinden – eilig errichtete Hallen, in denen tausende Betten aneinandergereiht sind. Hinein muss jeder, der positiv auf das Virus getestet wurde – egal ob krank oder nicht.

Seit Mittwoch sind die öffentlichen Verkehrsmittel in Schanghai wieder in Betrieb.
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Darüber hinaus gilt: Alle Einwohner müssen weiterhin alle 72 Stunden zu einem PCR-Test. Sollte in einer Wohnanlage ein Fall auftauchen, wird diese wieder für zwei Wochen versiegelt. Das betraf am Donnerstag mehrere Siedlungen.

Wie lange dieser Zustand anhalten soll, weiß niemand. Viele befürchten, dass die regelmäßigen PCR-Tests und die damit verbundenen Beschränkungen zu einer dauerhaften Einrichtung werden. Darauf deutet auch die Tatsache hin, dass Peking kürzlich die für 2023 angesetzte asiatische Fußballmeisterschaft abgesagt hat. Sogar von mehreren Jahren ist die Rede.

Länger als angekündigt

Die Zentralregierung hatte im März einen strikten Lockdown über die Stadt verhängt, nachdem die Infektionen mit der Omikron-Variante des Coronavirus stark angestiegen waren. Zunächst war von vier Tagen die Rede. Dann aber wurden die rigorosen Ausgangsbeschränkungen auf unbestimmte Zeit verlängert.

Viele Regeln bleiben
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Ob die Regierung die Zahl der Neuinfektionen tatsächlich in den Griff bekommen hat oder ob die Öffnung vielleicht eher eine politische Ursache hat, ist ungewiss.

Nur schwer war zu erklären, warum es trotz striktester Ausgangsbeschränkungen immer wieder zu Neuinfektionen kam. Auch ist kaum nachvollziehbar, weshalb man hunderttausende Menschen in Quarantänehallen einwies, wo es wohl zu zahlreichen Kreuzinfektionen und anderen Krankheiten gekommen ist. Das Ziel, dass Schanghai Anfang Juni öffnen müsse, war vor einigen Wochen bekanntgegeben worden. (Philipp Mattheis, 3.6.2022)