Foto: Shervin Lainez

Mit gleich 21 Titeln ist es schon vom Umfang her so etwas wie ein Opus magnum. Andererseits ist es nicht das erste Doppelalbum, das die US-Band Wilco in ihrer bald 30-jährigen Geschichte veröffentlicht hat, das Format stemmen sie locker.

Die aus Chicago kommende Gruppe hat eben das Album Cruel Country veröffentlicht. Dafür bleibt sie mit einem im Folkrock verwurzelten Gestus nah am Country dran, wenngleich nicht die Countrymusic gemeint ist. Oder nur selten: als eine Sprache und Übersetzung für die Phänomene, die die USA für den Songwriter und Gitarristen Jeff Tweedy bereithalten.

So wie sich in Tweedy Hoffnung und Verzweiflung als Untermieter seines Gemüts abwechseln, machen sich auch im Land Dinge breit, die ihm und seiner Band Sorgen bereiten. Man muss nur an die Nachrichten aus Uvalde in Texas denken, und man ist im Thema. Es lautet: Wie erträgt man das Leben in einem Land, das gleichzeitig wunderschön und obszön brutal und rückständig ist. Ein Land, in dem Menschen mit Gotteseifer ungeborenes Leben schützen möchten, gleichzeitig akzeptieren, dass 19 Volksschüler ermordet werden, denn bewaffnet durch die Gegend zu rennen ist schließlich ein Grundrecht.

Wilco - Topic

Die Melancholie des von Depressionen geplagten Tweedy ist dementsprechend gut versorgt, sein sanftes Idiom, das Verletzlichkeit und Traurigkeit transportiert wie nur wenige andere Stimmen in diesem Fach, hat viel zu erzählen, aber wenige Antworten. Wie auch?

Unfreiwillig zuarbeiten

Cruel Country ist entgegen vielen sich bietenden Anlässen kein wütendes Album, nicht formal. Es leidet, zerbricht stellenweise fast an der Zerrissenheit, die die Themen dem Chronisten aufbürden.

Wilco - Topic

Die Instrumentierung ist über weite Strecken akustisch, gefühlvoll arrangiert, hoch dosiert in Moll und schweren Herzens. Die mitreißenden Songs mit genialen Hooklines sucht das Publikum zwar vergeblich, die Atmosphäre des Werks macht das aber wett. Die 21 Lieder sind Geschichten aus einem widersprüchlichen Dasein, festgehalten in Brillanz und Schönheit, wie ein Song wie The Empty Condor zeigt.

Akkurat und konzentriert

Die Pandemie und die damit einhergehende Entwöhnung von normalen Produktionsprozessen haben diesem Meisterwerk unfreiwillig zugearbeitet. Endlich wieder miteinander musizieren zu können, gemeinsam neue Songs einzuspielen, nehmen Wilco als Geschenk wahr, nicht mehr als Selbstverständlichkeit. Ein Umstand, den das Sextett behutsam pflegt: mit gebeserlten Becken, einem träge schwingenden Klicke-di-klack-Schlagzeug, lidschwerem Gesang, dabei stets akkurat und konzentriert in den Raum gesetzt.

Es ist das vermeintlich Unspektakuläre, das Wilco stückweise zum Epos ausrollen. Dabei dachte man, schon alles zu kennen, was Wilco im Repertoire haben. Cruel Country bestätigt das einerseits, überrascht andererseits aber mit der zärtlichen Eloquenz, die diesem zwölften Studioalbum eine doch ganz eigene Magie verpasst. (Karl Fluch, 3.6.2022)