Arbeiter demontieren in Kiew das sowjetische Denkmal der ukrainisch-russischen Freundschaft, das 1982 errichtet wurde.

Foto: Genya Savolov / AFP

Als der Radiomoderator und Sportjournalist Kostjantyn Dulzew am Morgen aus dem Kiewer Randbezirk Obolon mit der U-Bahn ins Stadtzentrum zur Arbeit fährt, weiß er bereits, dass sein ziviles Leben in wenigen Tagen vorübergehend vorbei sein wird: "Als der Krieg begann, wollte ich eigentlich der Territorialen Verteidigung beitreten. Ich wurde aber vorerst nicht genommen, weil es keine Waffen mehr gab", erzählt der kräftige Mann in seinen späten Dreißigern.

Nun wurde er aber vom Wehramt doch eingeladen und beginnt in Kürze mit der Ausbildung zum Pionier. "Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, ich hätte keine Angst, auch wenn es sich bei mir nicht um die vordere Front handelt. Ich will aber etwas zum Sieg beitragen."

Glaube an den Sieg

100 Tage nach dem Beginn der großangelegten russischen Invasion bleiben die ukrainische Hauptstadt sowie die gesamte Gesellschaft trotz allem ähnlich zuversichtlich und siegessicher wie Kostjantyn. Mehr als 90 Prozent der Ukrainer glauben unterschiedlichen Umfragen zufolge an einen Sieg der ukrainischen Streitkräfte. Laut einer aktuellen Studie des Kiewer Internationalen Soziologie-Instituts von Mitte Mai lehnen 82 Prozent der Ukrainer jegliche territorialen Kompromisse ab.

Selbst im Osten liegt diese Zahl bei 68 Prozent. "Es ist aber klar, dass dieser Krieg lange dauern wird", sagt Dulzew, dem allerdings die Erfahrungen der ersten Tage viel Kraft geben: "In unserem Wohnblock wurden damals Molotowcocktails gebaut, und wir waren bereit, sie auf russische Panzer zu werfen. Unter allen, die nicht ausgereist sind, herrschte Einheit. Das motiviert."

Große Konsolidierung

"Wir erleben tatsächlich eine große Konsolidierung der ukrainischen Gesellschaft. Die innenpolitischen Streitigkeiten spielen fast keine Rolle mehr", erzählt Petro Oleschtschuk, Politologe von der Kiewer Schewtschenko-Universität. "Mit seinem Angriff wollte Russland zeigen, dass die Ukraine keine eigene Nation ist. Das Bekenntnis zur ukrainischen Nation findet sich aber nicht nur in Kiew und Lwiw, sondern nun auch deutlich in Sumy, Charkiw und in den besetzten Städten Cherson und Melitopol. Putin erreicht das Gegenteil dessen, was er wollte", sagt Oleschtschuk.

Schon seit der Annexion der Krim und dem Beginn des Donbass-Krieges vor acht Jahren sind die Sympathien der Ukrainer gegenüber Russland gesunken. Anfang Februar 2022 waren nach Angaben des Kiewer Internationalen Soziologie-Instituts noch 34 Prozent Russland gegenüber positiv eingestellt, wobei hier ohnehin mehr das Land und weniger das Putin-Regime gemeint war. Inzwischen sind das nur mehr zwei Prozent. Und auch hier gilt: Selbst im überwiegend russischsprachigen Osten liegen die Sympathien für Russland nur noch bei wenigen Prozent.

Sowjet-Denkmäler entfernt

Die Ereignisse von 2014 haben in der Ukraine bereits zur sogenannten "Entkommunisierung" geführt. Noch während der Maidan-Revolution wurden etwa Lenin-Denkmäler spontan durch Aktivisten abgerissen. Bis 2018 wurden dann gezielt im Rahmen der staatlichen Politik die meisten Reminiszenzen an die sowjetische Herrschaft entfernt.

Nun folgt, vorerst ähnlich spontan, die "Entrussifizierung". So gibt es in mehreren Städten Initiativen zur Umbenennung der nach Russen benannten Städte. In Kiew wurden mehr als 12.000 Vorschläge eingereicht, die nun ein Expertenrat prüfen wird. Anschließend werden die Optionen den Bewohnern zur Online-Wahl gestellt. "Das ist jetzt einfach an der Zeit", betont Politologe Oleschtschuk, "das ist eine Initiative, die wirklich direkt von den Menschen kommt."

Der Politologe Taras Rad, einer der Autoren dieser Initiative im westukrainischen Lwiw, meint, dass es dabei nicht um Nulltoleranz gegenüber der russischen Kultur gehe. "Eigentlich geht es schlicht um die Dekolonisierung", erklärt er. "Natürlich gibt es zum Beispiel russische Schriftsteller, die zum Kulturerbe der Welt gehören. Doch viele dieser Schriftsteller haben gar keinen Bezug zur Ukraine", erläutert Rad. Sie seien schlicht ein Überbleibsel aus der Sowjetzeit, als die russische Kultur quasi als wertvollere Kultur und die ukrainische als provinziell gegolten habe. "Puschkin wusste natürlich nicht, dass seine Bücher als Instrument der sowjetischen Expansion benutzt werden würden. Doch was hat eigentlich eine Puschkin-Straße in Lwiw oder in Iwano-Frankiwsk zu suchen?"

Ausdauer und Realismus

Insgesamt haben sich die Menschen an den Krieg gewöhnt", glaubt Oleschtschuk. "Er wird für längere Zeit Realität sein, die Menschen müssen ihr Leben irgendwie fortsetzen." Die ukrainische Gesellschaft sei laut Oleschtschuk realistisch genug, um zu wissen, dass der große Sieg der Ukraine weder morgen noch übermorgen komme. "Es ist aber den Menschen klar, dass irgendwelche halbherzigen Schritte – eine Art neues Minsker Abkommen – keinen Sinn mehr machen. Man muss das Problem mit Russland diesmal wirklich lösen."

Dass ausgerechnet der menschliche Wolodymyr Selenskyj in diesem Moment Präsident ist, hält Oleschtschuk dabei für wichtig. "Die Ukrainer brauchen einen Leader wie Selenskyj. Das ist bei einem langen und schweren Kampf nicht zu unterschätzen." (Denis Trubetskoy aus Kiew, 3.6.2022)