Kritischer Blick auf das eigene Schreiben: Boris Pahor stellte wie Primo Levi oder Imre Kertész die Frage, ob das erlebte Grauen mit Worten nachvollziehbar gemacht werden kann.

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Er war der älteste Schriftsteller, der noch aktiv seinen literarischen Dienst versah – Boris Pahor, der große slowenische Erzähler, der jetzt im Alter von 108 Jahren in seiner Heimatstadt Triest gestorben ist. Heimat, das trifft es nicht gut, denn Pahor hat zwar fast sein ganzes Leben in Triest verbracht, aber in vielen seiner Bücher mit präziser Empörung dargelegt, wie schwierig es im 20. Jahrhundert für Angehörige der slowenischen Minderheit war, sich in Triest zu behaupten oder gar anerkannt zu werden.

Noch in hohem Alter hat er von dem traumatischen Erlebnis des Siebenjährigen berichtet, der mit seiner kleineren Schwester an der Hand mitansehen musste, dass aus dem slowenischen Volkshaus lichterlohe Flammen schlugen und die Faschisten in ihren schwarzen Hemden, die es angezündet hatten, die Feuerwehr johlend daran hinderten, den Brand zu löschen.

Fortgesetztes Unrecht

Sein vielbändiges Werk ist vor dem Hintergrund eines fortgesetzten Unrechts und eines epochalen Verbrechens entstanden: Zum einen hat es die Unterdrückung und Auflehnung der Slowenen zum Thema, denen ab 1918 im Staat der italienischen Faschisten jedwede Möglichkeit zu kultureller Entfaltung bestritten wurde.

Auch das demokratische Italien hat es nach 1945 seiner slowenischen Minderheit nie leicht gemacht, hat es sich zwar vom Faschismus im Allgemeinen losgesagt, aber nie über sich gebracht, die Entrechtung einzubekennen und zu beenden, die die Slowenen in Triest und dessen Umland seit je erleiden mussten. Zum anderen beschreiben und ergründen Pahors epische Werke das System des Konzentrationslagers, das Sterben und Überleben der Häftlinge, zu denen er selber zählte.

Romane wie Der Kampf mit dem Frühling oder Nekropolis stellen Pahor gleichrangig neben Primo Levi, Jean Améry oder Imre Kertész, die bezeugten, wie mit der industriellen Vernichtung der Juden im 20. Jahrhundert das Undenkbare für alle Zeit das Menschenmögliche wurde.

Pahor geriet in die Maschinerie der Verfolgung nicht aus rassistischen Gründen, sondern weil er sich in Triest dem Widerstand angeschlossen hatte. 1941 hatten die Faschisten mit zwei großen Prozessen versucht, die gebildete Schicht der von ihr als Barbaren verachteten Slowenen auszulöschen.

Überleben in der Hölle

Zum Tod verurteilt wurden Frauen und Männer, die meisten von ihnen Studenten, aber auch viele Lehrer und Arbeiter. Pahor entging der Verfolgung durch Zufall, was in ihm das quälende Schuldgefühl weckte, seine hingerichteten Freunde im Stich gelassen zu haben. Zwei Jahre später wird er in die Folterstätte der Polizei mitten in Triest, auf einem zentralen Platz der Altstadt, geworfen und von dort auf den langen Weg durch die Konzentrationslager verfrachtet.

Als er nach dem Krieg, krank und gezeichnet fürs Leben, nach Triest zurückkehrte, welche Situation fand er da vor? In Triest gab es die längste Zeit keine oder nur ganz kleine Verlage, die Bücher in slowenischer Sprache veröffentlichten. Wo konnten die Romane des Autors, der vom Überleben in der Hölle berichtete, erscheinen? Er musste versuchen, seine Bücher bei Verlagen in Ljubljana oder Maribor unterzubringen, aber dort galt er, dem offiziellen Bannstrahl zufolge, als vom Katholizismus geprägter Autor aus dem kapitalistischen Ausland.

Universale Lebensfragen

Man kann es sich heute kaum vorstellen, aber jahrzehntelang haben sich all die berühmten italienischen Autoren und Gelehrte um die auf Slowenisch schreibenden Kollegen ihrer Stadt nicht im Geringsten geschert. Mit der rühmlichen Ausnahme des großartigen Erzählers und leidenschaftlichen Grenzgängers Fulvio Tomizza, der als Romancier die innere Grenze der Region zwischen Italienern, Slowenen, Kroaten überschritten und in Das Liebespaar von der Via Rosetti den slowenischen Widerstandskämpfern den Tribut entrichtet hat.

Im berühmten Buch von Angelo Ara und Claudio Magris, Triest. Eine literarische Hauptstadt Mitteleuropas, wird Boris Pahor hingegen noch 1987 mit einem einzigen Absatz, die gesamte slowenische Literatur der Stadt auf nicht mehr als einer Seite abgehandelt, die man bestenfalls als gönnerhaft bezeichnen mag. So konnten die Werke Pahors, in denen er vor exakt vermessenen Orten und anhand einprägsamer Charaktere universale Lebensfragen stellte, die längste Zeit nicht über eine äußerst kleine Leserschaft hinausdringen.

Doch dann, als der Autor bereits 85 Jahre alt war, geschah das Unerwartete, doch Überfällige: Amerikanische und französische Verlage wurden auf den Mann aufmerksam, der in Triest als pensionierter Gymnasialprofessor lebte und in seiner Heimatstadt nahezu unbekannt war.

Verspätungen

Über die USA und Frankreich gingen seine Bücher um in die Welt, von wo sie mit einer Zwischenstation in Deutschland endlich sogar bis ins ferne Italien gelangten: Erst als Greis konnte Pahor erstmals italienische Übersetzungen seiner Bücher in den Buchhandlungen seiner Stadt finden.

Mit großer Verspätung ist der Roman Nekropolis 2001 auf Deutsch erschienen. Pahor erzählt darin von einem Sommertag in den sechziger Jahren und von der Höllenfahrt, zu der er zwanzig Jahre vorher durch die Konzentrationslager Dachau, Natzweiler, Mittelbau-Dora, Bergen-Belsen verdammt wurde.

Um davon schreiben zu können, was ihm widerfahren ist, hat der Erzähler durch ein langes, für ihn lebensbedrohliches Schweigen gehen müssen, und er zweifelt auch beim Verfassen des Buches stetig daran, ob es zulässig sei zu berichten, wovon er berichten musste, vom Tod – und von der Liebe, deren der Überlebende zum Weiterleben bedurfte und die er doch als Verrat empfand.

Systematische Entwürdigung

Als der einstige Lagerhäftling an einem schönen Sommertag nach Natzweiler, das KZ in den Vogesen, zurückkehrt, in dem er 1944 gefangen war, geht er die Wege und Treppen, die er damals gegangen ist – zuerst als ein Häftling unter Tausenden, dann als Krankenpfleger, schließlich als Träger der Toten: oben der Galgen, unten die Verbrennungsöfen, dazwischen die Baracken der Häftlinge.

Jetzt ist Natzweiler eine vielbesuchte Gedenkstätte, eine "nécropole nationale", damals war es ein Lager, in das eine Internationale der Verdammten gepfercht wurde: Franzosen, Polen, Holländer, Ungarn, Kroaten, Serben – und auch Italiener.

Sie Kameraden, Gefährten, Genossen zu nennen fällt dem Überlebenden nicht leicht, denn die systematische Entwürdigung hat Solidarität kaum zugelassen: "Keine Lehrbücher werden je die Stimmung jenes Menschen wiedergeben können, der den Eindruck hat, sein Nachbar habe um einen halben Finger mehr gelbe Flüssigkeit in seine blecherne Schüssel eingeschenkt bekommen."

Akt des Widerstands

Und doch ist dieser Bericht, der vom elenden Verrecken, Verhungern, Austrocknen, Erfrieren, vom sadistisch hinausgezögerten Tod durch Erhängen und vom allgegenwärtigen Sterben erzählt, auch ein großes Freundschaftsbuch, das die Liebe in den geringsten Gesten der Hilfe, des Zuspruchs, der Zärtlichkeit beschwört. Es ist wie ein Akt des Widerstands, dass Pahor seine Mitgefangenen, die ihrer Individualität beraubt und als Namenlose ermordet wurden, gerade als Individuen zu würdigen versucht.

Die Lektüre dieses Buches, das gestochen scharfe, unvergessliche Bilder des Schreckens bietet, würde man sich gerne reinen Gewissens ersparen. Aber auch wer glaubt, sich bereits genügend Studien, Berichte, Romane über das Reich der Konzentrationslager zugemutet zu haben, wird während der Lektüre feststellen, dass ihm gerade dieses eine Buch bisher gefehlt hat.

Ich habe Boris Pahor nicht oft getroffen, das letzte Mal im eiskalten Februar 2009, als er mich aufforderte, ihn endlich in Triest zu besuchen, weil er mir die Schauplätze seines Romans Piazza Oberdan, der damals in einer leider recht dürftigen deutschen Übersetzung erschien, zeigen wollte. Jede zweite italienische Stadt hat eine Via oder Piazza Oberdan, deren Namen an einen nationalen Märtyrer, der 1882 im Alter von 24 Jahren für Ruhm und Ehre des Vaterlandes fiel, erinnert.

Nationales Erweckungserlebnis

Es herrschte damals zwar kein Krieg, aber Guglielmo Oberdan begeisterte sich so sehr für die Idee eines italienischen Nationalstaats, dass er sich als Heiliger Krieger wähnte und Kaiser Franz Josef mit einer Bombe in die Luft sprengen wollte. Dilettantisch, wie er die Sache anging, wurde er noch vor dem Besuch des Monarchen verhaftet, vor Gericht gestellt und nach dem Todesurteil unverzüglich gehenkt.

Mit seinen edlen nationalen Idealen war es aber so eine Sache. Denn Guglielmo Oberdan, der italienische Heros, wurde als Viljem Oberdank von einer unverheirateten slowenischen Magd geboren. Er entstammte also einem "Volksstamm", von dem die Triestiner Zeitung Il Picolo damals schrieb, dieser wäre "ohne Kultur, fast ohne Sprache und ohne Nationalität, ein geschichtsloses Mischvolk von Wanzen, die sich in unserer Wohnung einnisten".

Auf dem Gymnasium von seinen Mitschülern als Abkömmling von Wanzen verachtet, hatte Viljem Oberdank sein nationales Erweckungserlebnis: Nicht bloß ein Italiener, ein italienischer Nationalheld wollte er werden!

Slowenisches Kind

Just auf dem Platz, der diesem slowenischen Kind der Armut, der sich den italienischen Bedrückern seiner Landsleute anschloss, ist Boris Pahor aufgewachsen. Auf diesem Platz errichtete die Gestapo 1943 ihr Hauptquartier, in dessen Folterkammern auch der 30-jährige Lehrer Pahor und sein Freund, der Maler Zoran Music, mit vielen Tausend anderen geriet.

Wer je in Triest war, kennt die Piazza Oberdan, denn hier ist die Endstation der berühmten, in jedem Stadtführer erwähnten Straßenbahnlinie, die zum Vorort Opicina hinaufführt und einen Teil ihrer Strecke als pittoreske Standseilbahn bewältigt. Geht man über die vielbefahrene Piazza, befindet man sich gewissermaßen auf dem Dach des Folterkellers. An dieser Piazza steht mit der Hausnummer 1 das alte Hotel La Posta, in dem ich mich damals, vor 13 Jahren, mit meiner Frau einquartierte.

Zur vereinbarten Stunde betrat Boris Pahor das mit plüschigem Charme ausgestattete Foyer, dick eingepackt mit einem Pullover, einem Sakko und einem Wintermantel darüber und einer braunen Wollmütze auf dem Haupt, für deren "Albernheit", wie er es auf Deutsch bezeichnete, er sich sogleich entschuldigte.

Ich hatte ihn seit über 15 Jahren nicht gesehen, aber er kam mir kaum gealtert vor, drahtig wie er war, rasch wie er sich bewegte, geschmeidig wie er im überaus höflichen Gespräch zwischen dem Deutschen und dem Französischen wechselte und uns mit hinter dicken Brillengläsern funkelnden Augen anschaute.

Das Verschwiegene

Wir zogen dann in die Kälte hinaus, und Pahor führte uns zu dem massiven Gebäude, das eine ganze Seite des Platzes begrenzt und in dem sich jetzt eine Bank und einige Versicherungen verschanzt hatten. Einst war dies die Zentrale der Gestapo gewesen, und im äußersten Eck war dort, wo sie kaum jemand entdecken mochte, jetzt eine kleine Tafel angebracht, die auf Italienisch daran erinnerte, dass hier zahllose Menschen der "occupatione tedesca" zum Opfer gefallen waren.

Pahor deutete auf das Schild und schaute schweigend, ob wir verstanden, was mit dieser Formel des Gedenkens alles verschwiegen werden sollte: Erstens, dass hier nicht nur, aber vor allem Slowenen eingekerkert waren und von hier in die Vernichtung deportiert wurden.

Zweitens, dass die Kommune von Triest es nicht einmal an dieser Stelle und nicht einmal im 21. Jahrhundert über sich brachte, eine zweisprachige Tafel anzubringen und vielen der Opfer in jener Sprache zu gedenken, die die ihre war.

Und drittens, dass penibel verschwiegen wurde, dass die Verfolgung nicht erst mit dem Einmarsch der Wehrmacht begonnen hatte, sondern schon lange vorher, in der faschistischen Ära Italiens.

Junge Besucher

Wir umrundeten den Platz, zu jedem Gebäude erzählte Pahor Anekdoten, die entweder mit der grausamen Geschichte zu tun hatten oder mit seiner Kindheit auf dieser Piazza. Als wir schon vor Kälte bibberten, stellte er sich in unsere Mitte, hängte sich bei meiner Frau und mir ein und geleitete uns mit tänzelnder Sicherheit zwischen die daherbrausenden Autos über die Piazza.

Er war ja auch erst 96 Jahre alt und musste auf seine jungen Besucher achten. An der Bushaltestelle verabschiedete er sich von uns, weil er heim zu seiner kranken Frau musste, und als der Bus Nr. 42 einlangte, bestieg er ihn federnden Schrittes. Aus dem Fenster deutete er uns noch, wir mögen unsere Mützen fest über die Ohren ziehen. In den Jahren danach hat er mir manches Buch mit Widmung geschickt, nicht ohne sich im Begleitbrief für unser Interesse an seiner kleinen Stadtführung und seinem Lebensweg zu bedanken. (Karl-Markus Gauß, 3.6.2022)