Im Stammbaum der Giraffen dürften Kämpfe unter männlichen Tieren die Evolution nachhaltig beeinflusst haben. Im Vordergrund der Grafik ist eine Rekonstruktion von Discokeryx xiezhi dargestellt, einer Art, die vor etwa 17 Millionen Jahren lebte; im Hintergrund sieht man die heute verbreitete Art Giraffa camelopardalis.
Bild: Yu Wang, Xiaocong Guo

Am Anfang vieler Entwicklungen steht der Konflikt. Manchmal ist das jener zwischen zwei Artgenossen, der bestimmt, wer den höheren Rang hat und damit häufig auch erfolgreicher bei der Paarung ist. Dieses Prinzip der sexuellen Selektion, das schon Charles Darwin als eine Triebkraft der Evolution vorstellte, sieht ein internationales Forschungsteam auch bei der Entstehung der erstaunlich langen Hälse von Giraffen als essenziell an, wie es im Fachjournal "Science" berichtet.

Grundlage dafür ist ein neuer Fossilfund, der "Discokeryx xiezhi" genannt wird. Der ausgestorbene Verwandte von Giraffen und Okapis lebte vor ungefähr 17 Millionen Jahren. Er fällt durch seinen massiven Schädel auf, der einen fünf Zentimeter dicken, tellerartigen Fortsatz hat. Ein Grund für die Forschungsgruppe um den Paläontologen Shi-Qi Wang von der chinesischen Akademie der Wissenschaften, die neue Spezies nach dem mythologischen Wesen Xiezhi zu benennen: Die kluge Kreatur aus ostasiatischen Legenden ähnelt durch das einzelne Horn auf der Stirn entfernt einem Einhorn, hat aber eher ochsen- oder ziegenartige Züge. Sie soll als Symbol der Gerechtigkeit auch gegen korrupte und lügnerische Menschen einschreiten, indem sie sie mit ihrer Stirnwaffe niederstößt und anschließend verschlingt.

Im nordwestchinesischen Junggarbecken lebten die alten Giraffenverwandten (Mitte) in einer diversen Fauna, wie Fossilienfunde zeigen.
Bild: Xiaocong Guo

Komplexer Dickschädel

Als "seltsames Biest" bezeichnete Jin Meng vom Naturhistorischen Museum in New York auch die versteinerten Überreste des Giraffenahnen, als er 1996 im Junggarbecken im Nordwesten Chinas auf sie stieß. Mehr als 77 Fossilien der Spezies wurden im Laufe der Jahre zutage gefördert. In der Studie, zu der neben Meng auch etwa Bastien Mennecart von den Naturhistorischen Museen in Wien und Basel beitrug, beschreibt die Forschungsgruppe das Tier, dessen Hals wesentlich kürzer als der einer Giraffe ist. Neben dem "helmartigen" Schädelfortsatz aus Keratin hebt sie die dicken Halswirbel hervor – und die komplexeste Gelenkstruktur am Übergang von Kopf zu Hals, die bisher bei Säugetieren gefunden wurde.


Im Modell simulierte das Forschungsteam die Kräfte, die beim Kopfstoßkampf auf den Nacken der Tiere gewirkt haben könnten. Mit den komplizierten Gelenken von D. xiezhi (links) dürften sie auch mit heftigen Stößen ohne Nackenbruch zurechtgekommen sein. Wäre der Übergang zwischen Kopf und Wirbelknochen weniger komplex und würden die Knochen schlechter ineinandergreifen (rechts), wäre das Verletzungsrisiko viel höher.
Bild: IVPP

Die Strukturen deuten für das Team darauf hin, dass sich die Tiere in Zweikämpfen durch Kopfnüsse aneinander aufrieben. Ein solches Verhalten wird noch heute bei vielen Arten beobachtet, die zur Gruppe der Stirnwaffenträger gehören – darunter etwa bei Hirschen, Moschusochsen und Steinböcken. Normalerweise fallen die Geweihe und Hörner bei Männchen größer aus als bei Weibchen, falls diese überhaupt Stirnwaffen tragen. Die männlichen Tiere nutzen sie im Kampf gegeneinander, um den anderen Artgenossen zu imponieren, und im Zusammenhang mit der Balz, um bessere Chancen bei den Sexualpartnerinnen zu haben.

Sozial wichtiges Schädelduell

Auch Giraffenbullen kämpfen, wobei ihre Technik sichtlich anders geartet ist: In scheinbarer Eintracht können die Tiere nebeneinander stehen, nur um plötzlich ihren langen Hals herumzuwirbeln und den Kopf – inklusive Knochenzapfen – mit Schwung gegen den Körper des Gegners zu rammen.

Nat Geo WILD

Diese Technik stand ihren Vorfahren vor 17 Millionen Jahren noch nicht zur Verfügung. Erst vor etwa fünf Millionen Jahren dürften sich die enorm langen Hälse herausgebildet haben. Allerdings gab es bereits davor Verwandte mit relativ langen Hälsen und massiven Wirbeln. Das Forschungsteam vermutet daher, dass bei dieser Tiergruppe die Kämpfe ein besonders wichtiger Teil des Sozialverhaltens waren und die Entwicklung zum Langhals initiierten. In der Folge ergab sich auch der Vorteil, an höher gelegene Blätter heranzukommen, der für noch extremere Längen sorgte.

Der hohe Preis des langen Halses

Damit liefert die Studie neuen Stoff in der Frage, ob sich die Hälse eher aufgrund des maskulinen Wettbewerbs oder des erweiterten Nahrungsspektrums entwickelten. Verbreiteter ist das letztgenannte Konzept, wie der Verhaltensökologe Rob Simmons von der Universität Kapstadt in Südafrika erklärt, der nicht an der Studie beteiligt war. Gegen die These, dass die sexuelle Selektion größeren Einfluss hatte, wird oft ins Feld geführt, dass auch die weiblichen Giraffen lange Hälse haben, ohne sie augenscheinlich für Kämpfe oder Konkurrenz zu benötigen. Andererseits zeigten Analysen, dass Giraffen ernährungsmäßig eher in niedrigen Baum- und Strauchetagen zugreifen.

Der Giraffenhals sorgt noch immer für Diskussionen unter Evolutionsbiologen und Evolutionsbiologinnen – auch nachdem Jean-Baptiste Lamarcks Beispiel entkräftigt wurde, dass Giraffen sich so lange nach Bäumen streckten, bis sich ihre Hälse verlängerten und sie die angepasste Anatomie an ihre Nachfahren weitervererbten.
Foto: imago / Westend61

Hinzu kommt, dass große Giraffen in Dürreperioden bei starker Nahrungskonkurrenz wahrscheinlich nicht besser überleben können als kleinere Artgenossen. Dies könnte auch damit zusammenhängen, dass es durchaus aufwendig ist, einen besonders langen Hals zu haben: Ein Giraffenherz – das im Verhältnis sogar relativ klein, aber mit dicken Muskeln ausgestattet ist – pumpt das Blut zwei Meter hoch in den Kopf, mit einem Blutdruck, der doppelt so hoch ist wie der von vielen anderen Säugetieren. Dafür braucht der Körper gute Mechanismen, um Schlaganfälle und Ohnmacht zu vermeiden. Generell habe sich die Giraffe "wunderbar daran angepasst", sagt Simmons, "aber es ist ein hoher Preis".

Evolution und Mythologie

Dem Verhaltensökologen zufolge lenkt die neue Studie berechtigterweise das Interesse der Öffentlichkeit auf die Alternativerklärung für die langen Hälse: "Diese Arbeit wird den Menschen die Augen dafür öffnen, dass wir diese Theorie der sexuellen Selektion ernst nehmen sollten." Andere Fachleute wie Nikos Solounias vom New York Institute of Technology sind kritischer. Alle Tiere aus der Gruppe der Stirnwaffenträger würden ihre Hörner und ihre kräftigen Hälse zum Kämpfen nutzen, weshalb die Fossilfunde keine spezielle Aussage über moderne Giraffen träfen. "Giraffen kämpfen anders; sie haben eine andere Evolutionsgeschichte", sagt der Paläobiologe.

Die Rekonstruktion als 3D-Modell zeigt, wie ein lebendes Exemplar ausgesehen haben könnte. Das Detailbild zeigt den breiten Fortsatz auf der Stirn, der an einen Melonenhut erinnert.
Bild: APA / AFP / Institute of Vertebrate Paleontology and Paleoanthropology, Chinese Academy of Sciences / Yu Wang

Abgesehen von der Frage, wie sich die langen Hälse der Giraffen entwickelt haben, könnte die Studie jedoch auch Hinweise auf einen kulturellen Aspekt liefern, vermutet Erstautor Wang: Die chinesische Legende vom einhörnigen, gerechtigkeitsliebenden Fabelwesen könnte unter Umständen von fossilen Giraffenvorfahren herrühren, auf die die Bevölkerung schon vor den 1990er-Jahren gestoßen sein könnte. Immerhin wird das mythische Anti-Korruptions-Einhorn mit variierend auffälligem Stirnfortsatz dargestellt. (Julia Sica, 3.6.2022)