Schriftstellerin und Nichtschriftstellerin: Fran Lebowitz.

Foto: Imago / Courtesy Everett Collection / Rialto Pictures

Oscar Wilde ist ein Spiegel. Schrieb vor etwas mehr als drei Jahren eine englische Literaturkritikerin, als nahezu zeitgleich drei schwergewichtige und höchst umfangreiche Bücher über diesen Schriftsteller erschienen. Jeder "critic", so Kate Hext, die in Exeter in Südwestengland lehrt, jede und jeder aus der Riege professioneller Literaturkritiker also, würde sich selbst in Wilde sehen. Als heiliger Oscar. Oder als Ire. Als Wortfeuerwerker oder Klassizist oder Sozialist oder Märtyrer für die Rechte Homosexueller. Gerade auf dieser prismatischen, sich endlos weiterreproduzierenden Vielfalt beruhe die "Wilde Industry".

Wird es eines Tages auch eine "Fran-Lebowitz-Industrie" geben? Aber was hat der Ästhet und Bonmot-Produzent des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts mit der New Yorkerin zu tun? Zum einen: Sie kam ziemlich genau 50 Jahre nach Wildes Tod im Pariser Exil, der noch beim Sterben eine herrliche Formulierung prägte: "Ich sterbe über meine Verhältnisse", zur Welt. Zum anderen: Es gibt bereits ganz Ähnliches. Allerdings unter den Namen "Martin Scorsese" und "Netflix".

Der schnell sprechende Filmregisseur, seinerseits Verkörperung New Yorker Filmkunst des letzten Halbjahrhunderts, war seit langem hingerissen von Lebowitzens Bonmot-Feuerwerkereien und ihrem ätzenden, sehr oft sehr trockenem Witz. Und widmete ihr 2020 ein siebenteiliges filmisches Porträt, Pretend It’s a City.

Sardonisches und Blockade

Wen sah man darin, durch New York promenierend? Fran Lebowitz. Scharfzüngig. Spitzzüngig. Sardonisch. Sehr oft treffend. Noch öfters den Wahnsinn des Alltags dekuvrierend, die metropolitanen Skurrilitäten, die urbanen Bizarrerien und das notausgangslose Labyrinth des Lebens.

Seit 1970 lebt Lebowitz in New York. Besser gesagt: in Manhattan. Um ganz genau zu sein: erst West Village ("Ich hatte ein Schlafsofa. Es war ein Zimmer, und das ist noch großzügig ausgedrückt. Wenn das Bett ausgeklappt war, konnte ich alle vier Wände berühren"), später 10th Street, dann lange 57th Street, seit 2017/18 Chelsea. Wie es sich für eine in der Wolle gefärbte New Yorkerin versteht, stammt sie, typisch für alle in der Wolle gefärbten New Yorkerinnen und New Yorker, aus New Jersey, aus Morristown.

In den 1970er-Jahren machte sie sich einen Namen als Journalistin, Kolumnistin, Glossenautorin. Ihre Kolumnen, Kurzessays, Meinungsstücke, Texte wurden in zwei Bänden gesammelt, in Metropolitan Life (1978) und Social Studies (1981). 1994 erschienen sie zusammen als The Fran Lebowitz Reader, der seither durchgehend lieferbar ist – ein für den US-Buchmarkt bemerkenswerter Umstand.

Zweites Kuriosum: Die Schriftstellerin Fran Lebowitz ist ihr halbes Leben eine Nichtschriftstellerin. Sie pflegt seit mehr als dreißig Jahren einen ironisch angereicherten, mittlerweile fein distinguierten "writer’s block", eine Schreibblockade für alles Größere, vor allem für den Roman, für welchen sie einst einen stolzen Verlagsvorschuss erhalten hatte.

Geld verdiente sie, indem sie, die vor Grant Sprühende, als Vortragende auftrat, und als Schauspielerin. In einer Mainstream-Krimiserie verkörperte sie mehrere Staffeln lang mit ihren tiefschwarzen Haaren, den prägnanten Gesichtszügen und der dunklen Brille eine Richterin. Als die sie auch Martin Scorsese in seinem Film The Wolf of Wall Street von 2013 besetzte.

Humor und Zeit

Humor ist eine recht junge Angelegenheit. Der Begriff "Humor" im heutigen Sinne als Scherz, Satire, Ironie und heitere Bedeutung ist erstmals fürs Jahr 1682 verbürgt und taucht in einem Aufsatz eines englischen Autors und Philosophen auf. Voltaire hingegen reklamierte Humor als Humor für Frankreich. Und das ging dann bis in die Romantik hinein.

Victor Hugo, der Erfinder des Glöckners von Notre-Dame und von Les Misérables, das nicht erst als Musical auf die Welt kam, schrieb noch 1862 von "jener englischen Sache, die man Humor nennt" – sieben Jahre später erschien sein hierzulande wenig bekannter historischer Roman L’homme qui rit, "Der lachende Mann". Bei fast 900 Seiten Umfang hat man nicht viel zu lachen.

Bis zum Ende des 17. Jahrhunderts hatte man unter "Humor" ganz im Sinne der Antike noch die im Körper befindlichen vier unterschiedlichen Säfte verstanden, die die Temperamente widerspiegeln sollten. Daher auch die Bezeichnung "galliger Humor", der eben bitter, gallenbitter ist. Und das kann Lebowitz sein. Aber auch: gallig selbstironisch.

Eigenes Unvermögen

Worüber schreibt und räsoniert und spottet und aphorisiert Lebowitz also nun lebhaftest? Über eigenes Unvermögen im Leben, zu dem sich hartnäckig Pech dazugesellt. Über Katastrophen, die im Lexikon unter B wie "Beziehungen" aufscheinen. Über Kindererziehung ("Erlauben Sie Ihrem Kind nie, Sie beim Vornamen zu nennen. Dafür kennt es Sie nicht lange genug"). Über wildes Tanzen in Diskotheken und wilden Sex – wir sind da noch in den Siebzigern – und Diäten und Fitnessprogramme (die drastischste Maßnahme für Gewichtsverlust: den Immobilienteil einer Zeitung lesen), über Ordnung und herrlich lässliche Unordnung, über Herkunft, soziale Aufsteiger, Verlagswesen.

Immer wieder parodiert sie mit schaurig ironischer Ernsthaftigkeit Ratgeberliteratur. Und natürlich schreibt sie über, nahe-, da gleich vor der Tür liegender Weise, New York und New Yorker.

Bonmots und Pingpong

Das ist fast durchweg hinreißend, glänzend, klarsichtig, klirrendbös. Was Lebowitz pflegt, ist die alte Kunst des Salon-Dialogs, der sprühenden Pingpong-Konversation in Bonmots und Aphorismen, über deren Anstreichen der Bleistift des Berichterstatters immer kürzer geworden ist. Da findet sich etwa der Satz: "Wenn Sie Ihr Kind die Möbel für sein Zimmer aussuchen lassen, dann darf sich auch Ihr Hund seinen Tierarzt selber aussuchen."

Oder: "Bitte vergessen Sie nicht, dass sich bestimmte Themen bei Tisch verbieten. Es lesen ziemlich viele Menschen, während sie essen." Oder, nachdenklich stimmend ob herber Vergänglichkeit: "Einen flüchtigen Gedanken festzuhalten, ist unmenschlich." Oder, noch immergrüner: "Wenn Sie es in dieser Welt zu etwas bringen wollen, besorgen Sie sich kein Buch, sondern einen Anwalt."

Fran Lebowitz, "New York und der Rest der Welt". 22,70 Euro / 352 Seiten. Rowohlt-Verlag, Berlin 2022
Cover: Rowohlt

Moment, ein Buch sollten Sie sich besorgen – dieses. Das äußerst lustig ist, erschütternd amüsant. Und sprachlich von fulminanter Flamboyanz, ein Wort, das Lebowitz noch vertraut sein müsste, kursierte es doch bis etwa 1984. Allein schon für die Überschrift "Das Wort Lady: Wird meist gebraucht, um jemanden zu bezeichnen, mit dem man keine fünf Minuten reden will" hätte sie einen Preis verdient, gäbe es Preise in einer solchen Kategorie.

Wie aber lässt sich das alles zwischen Süffisanz und hell illuminierter disperazione nun von einer Sprache in eine andere umheben? Kurz: Sosehr sich auch das Übersetzerduo Mühe gegeben hat, Fran Lebowitz auf Deutsch klingt einfach wie Fran Lebowitz auf Deutsch.

Humor und Stil

Sie auf Englisch zu lesen ist im Grunde unumgänglich. Ebenso wie bei anderen englischsprachigen satirischen Autorinnen und Autoren, von Evelyn Waughs Reiseberichten bis zu Gore Vidals Sottisen, und den bissigen Humoristen der letzten 60 bis 100 Jahre, von Ring Lardner, S. J. Perelman oder Dorothy Parker bis zu John Hodgman, Jenny Allen oder, politisch am konträren Ende des Lebowitz’schen Spektrums, der jüngst verstorbene P. J. (Reisen in die Hölle) O’Rourke, ist der Rhythmus eines Satzes, sind Klang und Melodie, Länge oder Kürze, versteckter Anspielungsschatz und offen gezeigte Reverenzen, das Atemjähe wie das arabesk Ausholende ebenso essenziell wie das präzise Abfeuern einer illuminierenden Pointe im perfekten Moment.

Um es mit Lebowitz’ eigenen Worten zu sagen: "Da ich aus einer Familie stamme, deren literarisches Vermächtnis sich weitgehend auf Ansichtskarten beschränkte, wird es niemanden überraschen, dass es mir nie so recht gelungen ist, meiner Großmutter zu erklären, was ich eigentlich genau mache." Das macht sie aber großartig. (Alexander Kluy, ALBUM, 6.6.2022)