Dass Russland und die Ukraine jetzt auch noch Zeit haben, sich um Suppenrezepte und die einzig wahre Herkunft des Borscht zu streiten, zeigt – wieder einmal – wo das patriotische Herz am heißesten schlägt: am Esstisch. Der Borscht soll wie berichtet von der Unesco zum kulinarischen Weltkulturerbe der Ukraine erklärt werden, um zu verhindern, dass Mütterchen Russland die dicke Suppe aus vergorenem Gemüse und anderen guten Sachen als die ihre auszugeben wage.

Dass Borscht, wahlweise auch Borschtsch oder Barszcz oder auch Bartsch, weder rein russisch noch pur ukrainisch ist, sondern zumindest ebensolche Wurzeln in Polen und auch Rumänien hat, dass aschkenasische Juden Borscht über Jahrhunderte als Teil ihrer Kultur verinnerlicht haben, dass Katholiken in Polen ihn ebenso wie Griechisch-Orthodoxe, Russisch-Orthodoxe und Juden als jeweils zentralen Teil religiöser Folklore und Festtagstafeln zelebrierten – geschenkt. Die mythische Suppe mag nationale Vereinnahmung durch ihre schiere Existenz und Vielfalt noch so nachdrücklich ad absurdum führen, es wird ihr nichts nutzen. Tatsachen sind Nebensache, wenn dem Patrioten erst der nationalistische Geifer im Munde zusammenrinnt.

Borscht hat Wurzeln in vielen Ländern.
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Es passt nur zu gut, wenn jetzt die Unesco meint, dem auch noch Vorschub leisten zu müssen, indem sie die Kandidatur der Suppe in ihren explizit ukrainischen Varianten für die Liste des immateriellen Kulturerbes der Menschheit zu prüfen gedenkt – und zwar außertourlich, im Rahmen eines Dringlichkeitsverfahrens. Wir erkennen: Wenn es wirklich um etwas geht und noch dazu der Völkerverständigung dient, dann ist die internationale Gemeinschaft voll Entschlossenheit und Handlungswillen.

Wie auch immer: Jetzt haben wir den Salat, jetzt geht es um die Wurst, jetzt tanzen wir mit Gusto um den heißen Brei. Wie der Borscht wurde, vor allem wo, verliert sich in den Wirren der Geschichte. Dass er seinen Namen von einer inzwischen nur noch selten verwendeten Zutat, dem für seine Hautreaktionen berüchtigten Wiesen-Bärenklau hat, gilt hingegen als gesichert. In Wahrheit geht es aber ohnehin um etwas anderes: Um kulturelle Vereinnahmung, um Identitätspolitik, um politische Abgrenzung, wo es in der Realität keine Grenzen gibt.

Die Vorstellung, ein Gericht als exklusiv einer Nation oder Volksgruppe zugehörig zu definieren, ist absurd. Hierzulande wissen wir das besonders gut: Das Gulasch haben wir Ungarn zu verdanken (auch wenn es da anders heißt), die Krautfleckerl Böhmen, den Apfelstrudel dem Osmanischen Reich. An anderer Front wird dieser Tage aber eine noch mal andere Debatte über die kulturelle Vereinnahmung kulinarischer Entwicklungen geführt. Da geht es um Identität, um Schuldeingeständnisse und, natürlich, um die Unverdaulichkeit vergangener Ereignisse, die bis heute schwer im Magen liegen.

Dass die britische Queen bei ihrem "Platinum Jubilee" offenbar ein mit Curry gewürztes Gericht servieren ließ, führte nicht etwa zu öffentlicher Sorge, wie der Verdauungsapparat einer Greisin mit derlei massiven Würzreizen wohl zurechtkommen würde. Nein, es wurde ernsthaft diskutiert, ob dies angesichts der Kolonialgeschichte des Vereinigten Königreichs nicht als fortgesetzt imperialistischer Akt gewertet werden müsse.

Curry ist ein britisches Gewürz. Gerne verwendet auch in Sandwiches – diese hier sind wohl mit Coronation Chicken gefüllt, jenem Curry-Gericht, das vor 70 Jahren anlässlich der Krönung von Queen Elizabeth II aufgetischt wurde.
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Natürlich war die Ausbeutung des indischen Subkontinents durch die britische Krone ein Verbrechen. Natürlich war ein Initialgrund für diese Ausbeutung der Gewürzhandel. Es ist aber auch so, dass Curry ein eindeutig britisches Gewürz ist – entstanden in den Kolonien, als britische Entwicklung. Eine Curry genannte Gewürzmischung wird man in den indischen Küchen nicht finden. Sie wurde von findigen Geschäftsleuten für die Verschiffung in die Heimat zusammengepanscht. Wer der Queen ein Gericht mit Curry ankreidet, muss das folgerichtig auch mit dem Pfefferstreuer auf ihrem Tisch – oder, noch ärger, mit dem Kaffee zum Dessert (am Ende gar mit Vanille?) – tun. Sind schließlich allesamt Produkte, die eng mit dem Kolonialismus und der Ausbeutung ganzer Völker zu tun haben.

An die Grenzen stoßen

Wir merken: Der Blick auf die Geschichte ist stets lehrreich, auch bei Tisch. Wer aus dem Unrecht der Vergangenheit einen Speiseplan für heute ableiten will, wird freilich verdammt schnell an die Grenzen des Genießbaren stoßen. Selbst das Volksnahrungsmittel Erdäpfel ließe sich mit Verweis auf die von der englischen Oberklasse mit lässiger Gleichgültigkeit hingenommene große Hungernot von 1847 in der damaligen Kolonie Irland als tabu klassifizieren – mehr als eine Million Iren sind damals den Hungertod gestorben, weil die lebenswichtige Erdäpfelernte der Knollenfäule zum Opfer fiel und die in London weilenden Großgrundbesitzer es nicht für nötig befanden, einen Finger für ihre hungernden Untertanen zu rühren. Heute Erdäpfel essen – wäre das nicht eine Verhöhnung der Toten von damals?

Immer mit der Ruhe – schließlich haben wir als ebenfalls ehemalige Imperialisten diesbezüglich wenig Grund für Schadenfreude: Wenn wir die Unterdrückung von Böhmen und Ungarn, von Slowenen, Ukrainern und all den anderen Volksgruppen und Nationalitäten im einstigen "Völkerkerker Europas" auch kulinarisch entsprechend sühnen müssten, bliebe von der vielgerühmten Wiener Küche kaum etwas übrig: ein bisserl alpines Mus und Gröstl, die eine oder andere Klachlsuppe, vielleicht ein Beuschel. Aber so gut wie keine der einst weltberühmten Mehlspeisen (okay, das panzerfest glasierte Dauergebäck namens Sachertorte nimmt uns keiner), kein Paprikahendl und keine Nockerln, kein Krautfleisch und kein Bröselkarfiol, ja nicht einmal ein knuspriges Grammelpogatscherl. In der Wursttheke sähe es bis auf Frankfurter und Leberkäse ähnlich dürftig aus: Weder Krakauer noch Polnische, weder Krainer noch Beskiden und schon gar kein saftiger Beinschinken nach Prager Tradition.

Wem gehört das Gulasch?
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Wer die Küche für nationalistisches Schulterklopfen missbrauchen will, bewegt sich deshalb auf ebenso dünnem Eis wie jene, die sie vor kultureller Aneignung durch andere bewahren wollen. Was eine gute Küche ist, kann nur durch Austausch, Handel, Reise und die Auswirkungen der Geschichte im Allgemeinen entstehen. Die Geschichte lehrt uns leider, dass da immer auch Krieg, Unterdrückung, Migration und eben Aneignung dazugehört haben.

Jede Küche ist ständigem Wandel unterzogen, sie bedingt den Austausch mit dem Fremden geradezu. Wer der (ohnehin verqueren) Idee von der kulturellen Reinheit nachhängt, greift unweigerlich ins sprichwörtliche Klo. Das wollen manche nicht verstehen. Ist ja auch verlockend billig, sich gerade über Essen und Trinken vom Nachbarn abzugrenzen und ihn wahlweise als Spaghettifresser, als Kümmeltürken oder auch als Kraut- und Mostschädel zu verunglimpfen.

Richtig übel wird es, wenn versucht wird, im selben Aufwaschen, mittels Überhöhung der eigenen Küche als identitätsstiftender Institution, über kulturelle und religiöse Eigenheiten von Minderheiten drüberzufahren. Die rechte Forderung nach heimattreuer "Schweinefleischpflicht" in Schulen und Kindergärten wegen drohenden Verlustes des wahren Österreichertums ist dafür ein grausames Beispiel.

Dabei ist es doch so: Weder Gulasch noch Curry, nicht Strudel und auch nicht Borscht gehören irgendjemandem – außer natürlich jedem, dem es schmeckt, und erst recht allen zusammen. Essen ist Austausch, Essen ist gelebte Gastfreundschaft: gemeinsames Sitzen an einem Tisch und damit die Gelegenheit, dem Gegenüber im Dialog in die Augen zu schauen. Und zu erkennen, was wirklich wichtig ist: nicht was uns trennt, sondern das, was wir miteinander teilen dürfen. (Severin Corti, 6.6.2022)