Grenzpolizisten mit Sturmgewehren stehen breitbeinig da, Schulter an Schulter. Hinter ihrem Rücken tanzen sich bunt gekleidete Menschen aller Alters- und Geschlechtszugehörigkeiten fröhlich ihren Weg durch die Stadt. Heute, am Tag der Jerusalem Pride Parade, dürfen die lesbischen, schwulen, bi-, trans- und intersexuellen und sonstigen queeren Leute in Jerusalem einmal so sein, wie sie sind. Möglich ist das aber nur, weil sie von Massen an Polizisten beschützt werden.

Feiern unter strenger Bewachung am Donnerstag in Jerusalem.
Foto: AP / Ariel Shalit

Uniformierte sind alle paar Meter am Rand der Straße postiert, Scharfschützen spähen von den Dächern der Hochhäuser herab, halten Seitengassen im Blick. Ein Hubschrauber folgt der Parade im Tiefflug, Polizeidrohnen filmen den Marsch. Die Route ist ein isolierter Korridor. Niemand kann sich einfach so unterwegs der Parade anschließen oder davon weglaufen, von Polizisten kontrollierte Sperrgitter verhindern das. Es gibt eine Eingangsschleuse zur Parade, dort bekommt man ein lila Armband. Verlässt man den Marsch, muss man auch das Band abgeben – um zu verhindern, dass es in bzw. über Hände gelangt, die damit Böses vorhaben.

Versteckes "Open House"

Tel Aviv wird oft als Hochburg der LGBTIQ-Szene betrachtet, die dortige Pride Parade ist ein von der Stadtregierung veranstaltetes und finanziertes Massenfest, zu dem jedes Jahr Besucher*innen aus der ganzen Welt hinpilgern. Nur 70 Kilometer entfernt, in Jerusalem, leben Schwule, Lesben und Transpersonen "auf einem harten Pflaster", wie Noam Yavin vom "Jerusalem Open House for Pride an Tolerance" es beschreibt.

Das Open House ist die einzige Einrichtung für die Community in Jerusalem. Entgegen seinem Namen ist es weder ein Haus, noch ist es offen: Es ist im vierten Stock eines Hochhauses im Zentrum Jerusalems angesiedelt, hinter Panzerglastüren bietet es Beratung, Schutz und Betreuung für die Jerusalemer Community.

Angesichts der strengen Auflagen blieb die Lage friedlich. Ohne lila-blaue Armbänder war allerdings kein Zugang möglich – beim Verlassen der Parade mussten diese abgegeben werden, damit sie nicht möglichen Gewalttätern in die Hände fallen.
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Viele von ihnen stammen aus frommen jüdischen Familien, einige leben ihre Identität im Verborgenen. In der Klinik des Open House bekommen sie anonyme medizinische Tests und Therapien und psychologische Leistungen. Wobei es vor allem unter streng Religiösen oft begründete Skepsis gegenüber Therapien gebe, sagt Yavin.

Der Grund: Immer noch raten manche Rabbiner Homosexuellen zu den von Fachleuten als gefährlich eingestuften Konversionstherapien. Jugendliche werden zum Teil von ihren Eltern zu den Behandlungen geschickt, die ihnen einreden sollen, dass Homosexualität erstens eine Krankheit und zweitens "heilbar" sei. "Wenn sie dann zu uns kommen, sind sie dann generell ängstlich, was Therapien angeht", erklärt Yavin. Eigentlich wäre es eine Aufgabe der Politik, sich um diese gefährdeten Gruppen zu kümmern, doch die Jerusalemer Lokalregierung begnügt sich mit Danksagungen und bescheidenen Geldgaben an das Open House.

Im Gegensatz dazu werden die Tel Aviver Anlaufstellen für LGBTIQ zur Gänze von der Stadt finanziert. Auf der Straße müssen sich schwule und lesbische Paare in Tel Aviv nicht verstecken.

Angriffe auf Regenbogen

In Jerusalem hingegen wird Ich-Sein zu einer Frage der Sicherheit. In den Wochen vor der diesjährigen Pride Parade wurden mehrere Jersualemer, die ihre Fenster mit Regenbogenfahnen schmückten, attackiert. In den Tagen vor der Parade drohten anonyme Absender einer der Veranstalterinnen, Emuna Klein Barnoy, mit Mord. Auch mehrere Minister, die ihre Teilnahme zugesagt hatten, wurden bedroht. "Wir werden nicht zulassen, dass die Pride Parade in Jerusalem stattfindet, Jerusalem ist die Heilige Stadt. Shira Bankis Schicksal erwartet dich", stand in einer Nachricht.

An die 16-jährige Shira Banki, die 2015 bei einer Pride Parade erstochen wurde, erinnern in Jerusalem nicht nur Banner sondern auch Anhänger des damaligen Täters: Sie drohten den diesjährigen Teilnehmenden das gleiche Schicksal an.
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Shira Banki war 16 Jahre alt, als sie an den Stichwunden starb, die ihr ein fanatischer religiöser Aktivist auf der Pride Parade 2015 zugefügt hatte. Der Täter, Yishai Schissel, war nur drei Wochen zuvor aus dem Gefängnis entlassen worden, wo er eine achtjährige Freiheitsstrafe wegen einer früheren Messerattacke auf die Pride Parade abgesessen hatte. Die anonymen Bedrohungstäter aus diesem Jahr unterzeichneten ihren Drohbrief an die Veranstalterin mit "Die Brüder von Yishai Schlissel".

Pfeffersprays und Knüppel

Trotz Sicherheitsbedenken schlossen sich 7.500 Teilnehmende der Parade am Donnerstagnachmittag an, beschützt wurden sie von 2.400 Sicherheitskräften, zu Zwischenfällen kam es nicht. Am Rande des Marsches wurden jedoch zehn Verdächtige festgenommen, in einem nahe der Parade abgestellten Wagen wurden Pfeffersprays und Knüppel gesichert.

Rechtsradikale demonstrierten am Rande der Parade mit dem Slogan "Jerusalem ist nicht Sodom".
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Es war die 20. Parade in Jerusalem, und zum ersten Mal nahm auch der Parlamentsvorsitzende teil. "Ihr habt das Recht, zu lieben, wen ihr wollt, ihr habt das Recht, zu heiraten, wen ihr wollt", rief Micky Levy von der liberalen Partei Jesch Atid ins Mikrofon. Das israelische Rechtssystem ist da jedoch anderer Ansicht. Da es in Israel keine standesamtliche Eheschließung gibt, sondern nur religiöse Riten, bleibt die Heirat den Heterosexuellen vorbehalten. Denn weder Rabbinat noch Imam noch die christlichen Autoritäten erachten nichtheterosexuelle Paare als der Ehe würdig. Schwule und Lesben buchen daher meist einen Flug ins nahe Zypern, um dort zu heiraten und sich im Anschluss in Israel als verheiratetes Paar anerkennen zu lassen.

In einem Radiointerview im Vorfeld der Parade sagte Pride-Organisatorin Emuna Klein Barnoy, dass sie angesichts der Morddrohungen zwar um die Sicherheit ihrer Kinder fürchte. Trotzdem denke sie nicht daran, die Parade abzusagen – und zwar ihren Kindern zuliebe. "Sie sollen in einer offeneren Welt aufwachsen." (Maria Sterkl aus Jerusalem, 3.6.2022)