Syrisch-kurdische Flüchtlinge in Gaziantep. In der Türkei breiten sich Ressentiments gegen die Menschen aus Syrien aus. Parteien versuchen sie zu nutzen.

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Um zwei Uhr Nachmittags füllt sich eine kleine Straße am Rande der Altstadt plötzlich mit Kindern. Auffällig viele Mädchen mit Kopftuch und arabisch sprechende Burschen verschwinden in die heruntergekommenen Gassen, nach wenigen Minuten ist von ihnen nichts mehr zu sehen. "Schulschluss", meint der Besitzer einer kleinen Greißlerei lakonisch, "die syrischen Kinder gehen nach Hause." Folgt man ihnen in das Gassengewirr, wird schnell klar, dass hier die syrischen Flüchtlinge die Mehrheit stellen.

Die Läden werben in arabischer Schrift, Hinweise auf Aleppo gibt es an jeder Ecke. Reden aber wollen die Leute hier nicht so gerne, Zurückhaltung gehört zum Überlebensprinzip. "Ja", es gehe ihnen gut, ist alles was zwei Männer vor einem Laden, der arabische Lebensmittel importiert, von sich geben wollen. Auf die Frage, ob sie Angst davor haben, zurückgeschickt zu werden, zucken sie nur mit den Schultern.

Zurück, wohin denn, scheint diese Geste zu bedeuten. Mehmet Polat, ein Anwalt, der sich für Flüchtlinge engagiert, erstaunt die Zurückhaltung nicht. "Es herrscht in der Stadt schon länger eine negative Atmosphäre gegenüber den Flüchtlingen", sagt er. Viele der rund 500.000 Syrerinnen und Syrer, die in Gaziantep leben, haben keinen Job, sondern höchstens einmal eine Beschäftigung für ein, zwei Tage. Weil ihre Wohnungen oft eng und dunkel sind, verbringen sie ihre Tage in den Parks der Stadt. Das stört die Leute. Die Syrer belagern unsere Parks, und sie nehmen uns unsere Jobs weg, sei der Tenor, der immer wieder zu hören ist.

Es eskaliert schnell

"Unter der Oberfläche kocht es", sagt Polat. Aus kleinen, banalen Streitigkeiten können bald große Auseinandersetzungen werden. In Gaziantep hat es Massenschlägereien zwischen Syrern und Türken gegeben, in Urfa wurden mehrere syrische Läden abgebrannt, und auch in Istanbul und Ankara hat es in den vergangenen zwei Jahren Zwischenfälle gegeben.

Viele Politiker versuchen deshalb jetzt im Vorwahlkampf mit Sprüchen gegen die Flüchtlinge ihre Popularität zu steigern. Erst vor wenigen Monaten hat sich in der Türkei eine neue rechtsradikale Partei namens Zafer (Sieg) gegründet. Sie sammelt im Zentrum von Gaziantep im großen Stil Unterschriften für die Durchsetzung einer Zwangsrückkehr der Syrer. Selbst die seriöse Opposition, die sozialdemokratisch-kemalistische CHP und die nationaldemokratische İyi-Partei, stößt in dieses Horn. Weil er weiß, dass die Flüchtlingsfrage eine Schwachstelle von Präsident Tayyip Erdoğan ist, fordert auch der CHP-Vorsitzende Kemal Kılıçdaroğlu ein Rückkehrprogramm für die rund vier Millionen Syrer in der Türkei. Er will dazu nach einem möglichen Wahlsieg im kommenden Jahr Vereinbarungen mit dem syrischen Diktator Bashar al-Assad treffen, der nun einmal siegreich aus dem Krieg hervorgegangen sei.

Türkischer Hausbau in Syrien

Erdoğan hat deshalb vor wenigen Wochen angekündigt, er wolle in den von der Türkei kontrollierten Gebieten in Nordsyrien Häuser für Flüchtlinge bauen, damit diese die Möglichkeit hätten, freiwillig zurückzukehren. Eine Million syrische Flüchtlinge sollen so zur Rückkehr bewegt werden. "Das ist reine Propaganda und hat mit der Realität nichts zu tun, meint dazu Kemal Vural, ein landesweit anerkannter Migrationsexperte, der in Gaziantep den Verein Kirkayak gegründet hat, der sich unter anderem der Unterstützung der Flüchtlinge widmet.

"Die meisten Flüchtlinge", sagt Vural, "sind bereits seit knapp zehn Jahren in der Türkei. Sie kommen in der Regel aus dem benachbarten Aleppo. Die Leute haben sich hier ein neues Leben aufgebaut. Die Kinder gehen hier zur Schule, viele von ihnen erinnern sich gar nicht mehr an Aleppo." Es gibt eine breite Infrastruktur für die syrische Community, irgendwie verdienen die meisten etwas Geld, und die mittelständische Industrie braucht sie als billige Arbeitskräfte. "Freiwillig geht niemand mehr zurück." "Deshalb", so Vural, "versucht die Regierung seit Anfang dieses Jahres den Druck auf die Flüchtlinge zu erhöhen."

Keiner weiß, wohin

Vural hat aber auch Vorwürfe: Polizisten seien landesweit ausgeschwärmt, um die Meldeadressen syrischer Flüchtlinge abzuklappern. Die Flüchtlinge sind eigentlich verpflichtet, an den Orten zu leben, wo sie sich registriert haben. Das sind in der Regel die grenznahen Städte wie eben Gaziantep, Urfa, Kilis oder Karamanmarasch. Weil die aber völlig überfüllt sind und es dort keine Arbeit mehr gibt, sind viele weiter nach Ankara, Istanbul oder Izmir gewandert, wo sie dann aber nicht registriert sind. Von geschätzt einer Million syrischen Flüchtlingen sollen sich in Istanbul die Hälfte, also rund 500.000, illegal aufhalten. "Diese Leute sollen gezwungen werden, wieder an die Orte zurückzukehren, wo sie registriert sind", sagt Vural.

In Gaziantep sei aber kein Platz mehr. "Die Stadtverwaltung hat für 20 Bezirke eine Zuzugssperre für Menschen aus Syrien erlassen, angeblich um eine Ghettobildung zu verhindern. In den übrigen, reicheren Stadtteilen von Gaziantep können sie sich aber keine Wohnung leisten. "Die Leute wissen buchstäblich nicht, wohin, und dann sagt man ihnen, sie sollen zurückkehren", so Vural. "Erdoğan", meint Mehmet Polat, "verfolgt ein doppeltes Ziel. Er will einen Teil der Syrer zur Rückkehr drängen, die er dann auf der syrischen Seite der Grenze ansiedeln will, um so eine Pufferzone zur kurdischen Region zu schaffen." Eine Deportations- und Umsiedlungspolitik, wie sie die Herrscher im Nahen Osten seit Jahrhunderten betreiben. (Jürgen Gottschlich aus Istanbul, 4.6.2022)