Mindestens 243 Kinder sind nach den Worten des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj in den ersten 100 Kriegstagen getötet worden.

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Der Westen mag Uhren haben, Russland jedoch hat Zeit: So oder so ähnlich stellt sich, einem arabischen Sprichwort folgend, die Lage in der Ukraine dar, 100 Tage nach Beginn des russischen Angriffskrieges.

Eben die Zeit, so zeichnet sich ab, spielt den Kriegsherren im Kreml jetzt in die Hände. Der Kampf um den Donbass, die zu Ruinen geschossene Industriezone im Osten der Ukraine, scheint nun ganz nach dem Geschmack Wladimir Putins zu verlaufen: Seine Truppen rücken vor, erobern Städte wie zuletzt das strategisch bedeutende Sjewjerodonezk. Doch hinterlassen sie nicht nur verbrannte Erde, sie schaffen auch Fakten: Im Süden, in Cherson, beginnen die Besatzer mit dem Aufbau ziviler Strukturen. Es zeigt sich: Russland ist gekommen, um zu bleiben.

Und im Westen beginnt man langsam auf die Uhr zu schauen: Wann, fragen sich die Kommentatoren der großen Medien, endet dieser Krieg? Vor allem aber: Zu welchem Preis? Und wie lange noch vermag die mahnende Stimme des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj durchzudringen in die Herzen des von Inflation, Kriegsangst und Gaskrise getriebenen Westens?

Was will der Westen?

Zunehmend zerbricht man sich in den Nato-Ländern darüber den Kopf, welche Kriegsziele der Ukraine man eigentlich unterstützt – und welche nicht. Während etwa Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki offen einem Sturz Putins das Wort redet, gibt sich US-Präsident Joe Biden in einem Gastkommentar in der New York Times am Dienstag betont pragmatisch: Washington, schreibt er, strebe keineswegs einen Regime-Change in Moskau an. Bidens proklamiertes Ziel lautet: eine "demokratische, unabhängige und prosperierende Ukraine".

In immer mehr ukrainischen Städten wird die russische Fahne gehisst.
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Wie gespalten der Westen all diesen hehren Worten zum Trotz nach 100 Tagen Krieg auftritt, ließ sich bei dem vergangene Woche zu Ende gegangenen Weltwirtschaftsforum in Davos beobachten: Ausgerechnet Henry Kissinger, mit 99 Jahren so etwas wie der Altvater der US-Diplomatie und zeitlebens der Realpolitik gegenüber Moskau im Wort, schickte dort einen Testballon in den Schweizer Himmel: Kiew müsse akzeptieren, dass Russland die Separatistengebiete im Osten sowie die Krim nicht mehr hergebe. Nur dann könne es zu Verhandlungen kommen. Den Kreml zu demütigen, sagte Kissinger, sei keine gute Idee.

Die amtierende US-Regierung, die Kiew bisher mit insgesamt 60 Milliarden Dollar Militärhilfe ausrüstete, kommentierte den O-Ton des Altvorderen nicht. Doch es zeigt sich, dass in den USA – fünf Monate vor den Zwischenwahlen – Ernüchterung Einzug hält, was die Konfrontation mit Moskau angeht.

Auch in Deutschland agiert die Spitzenpolitik zunehmend uneins. Erst am Mittwoch herrschte Oppositionschef Friedrich Merz (CDU) Kanzler Olaf Scholz im Bundestag an, er solle doch endlich laut sagen, dass Deutschland einen Sieg der Ukraine wünsche. "Putin darf und wird diesen Krieg nicht gewinnen", antwortete der Sozialdemokrat – und betonte, es sei einzig und allein Sache Kiews, seine Kriegsziele zu formulieren.

Dass dies maßgeblich davon abhängen dürfte, welche und wie viele Waffen Deutschland und die anderen Nato-Länder zu liefern bereit sind, erwähnte Scholz nicht. Sein – je nach Geschmack – zögerlicher oder besonnener Kurs stößt bisweilen auch treuen Partnern sauer auf: Weil sich Berlins "Ringtausch", also die Lieferung deutscher Leopard-Panzer nach Polen als Ausgleich für polnische Waffenhilfe für die Ukraine, hinzieht, warf Warschau Berlin zornig "Wortbruch" vor.

Was will Russland?

In der Moskauer Führungsclique werde derlei Dissens unter Kiews Freunden nur allzu gern gehört, sagt Russland-Kenner Gerhard Mangott von der Universität Innsbruck: "Die wachsende Uneinigkeit zwischen den USA, Großbritannien und Polen auf der einen Seite und Deutschland und Frankreich auf der anderen Seite ist im Kreml natürlich höchst willkommen." Lauten Widerspruch innerhalb der russischen Elite vermag der Politologe hingegen nach wie vor nicht auszumachen.

Auch in Europas Sportstadien wird gerne die blau-gelbe Fahne der Ukraine gezeigt.
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Was Russland will, hat Außenminister Sergej Lawrow unlängst umrissen: Die Eroberung des gesamten Donbass, also weit über die Grenzen der "Volksrepubliken" Luhansk und Donezk hinaus, habe "absolute Priorität". Moskaus Strategiewechsel – erst Artillerie, dann Luftschläge, danach Sturm – trägt nun etwa in Sjewjerodonezk furchtbare Früchte.

Und dann? Dass Russland seinen ursprünglichen Plan, die Hafenstadt Odessa einzunehmen, aufgegeben hat, glaubt Markus Reisner von der Theresianischen Militärakademie nicht. "Durch die Eroberung von Cherson steht Putin ein Brückenkopf auf der Westseite des Dnjepr zur Verfügung, von dem aus er die Ukraine faktisch zu einem Binnenstaat machen und dieser dann weder Getreide noch Stahl über den Seeweg exportieren könnte."

Und die Ukraine?

Die USA würden Russland bis zum letzten Ukrainer bekämpfen, kommentierte der Kreml am Mittwoch süffisant die von Washington zugesagte Lieferung hochmoderner Artillerie an Kiew. Tatsächlich wird der Preis, den die Ukraine für die Verteidigung ihres Landes zahlt, Tag für Tag höher.

Allein im Donbass sterben Selenskyj zufolge jeden Tag 60 bis 100 ukrainische Soldaten. "Ein Sieg, den Kiew der Bevölkerung verkaufen könnte, wäre eine Rückkehr zu dem von Kissinger erwähnten Stand vor dem Krieg. Das ist aber aus heutiger Sicht unrealistisch", sagt Alexander Graef vom Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik Hamburg dem STANDARD.

Die Krim zurückerobern? Das würde, wie auch der sonst so kämpferische Präsident einräumte, ohnehin zu viele Leben kosten. "Angesichts der ursprünglichen Ziele Moskaus könnte der von vielen im Westen nun geforderte Friedensschluss nicht viel mehr sein als ein Luftholen, das Russland dazu nutzt, in ein paar Jahren erneut anzugreifen", sagt Graef.

Auch Militäranalyst Reisner sieht wenig Anlass für Optimismus. "Im Moment geht der Ukraine ein wenig die Luft aus." Dem Westen, so scheint es, ebenso. Die Stimmung in der Bevölkerung – Stichwort Energiepreise – könnte bald dazu führen, dass die Politik ihre Solidarität mit der Ukraine wird aufweichen müssen. "Je länger sich der Krieg hinzieht, desto geringer wird das Interesse im Westen." Die Zeit, so viel deutet sich nach 100 Tagen Krieg an, ist auf Russlands Seite. (Florian Niederndorfer, 4.6.2022)