
Buchautor Robert Misik erklärt die moderne Kunst zum Testfall: Nur in ihr gerinnt der Zeitgeist zum Epochengefühl.
Fließt der Strom des Fortschritts besonders zäh und träge, bedarf die Gesellschaft ihrer Künstlerinnen und Künstler. Nur sie sind laut Robert Misik imstande, die Fließgeschwindigkeit zu erhöhen. Der Wiener Misik, als politischer Autor ein glühender Linker, erklärt die Vertreter der radikalen Moderne zu Schrittmachern von Emanzipation und Befreiung. In seinem neuen Buch Das große Beginnergefühl rekapituliert Misik noch einmal die sich überschlagende Entwicklung der Avantgarde(n). Ein Crashkurs in Sachen Modernität.
Man bekommt, von Balzac über Brecht bis herauf zu Jelinek und Soap&Skin (!), noch einmal die Geschichte der künstlerischen Neuerer serviert. Misik liefert den brillant geschriebenen Hinweis darauf, dass man sich mit der Routine der Besitzstandswahrung nicht zufriedengeben soll. Das Ergebnis ist eine Einschulung in Sachen Progressivität, ein Handbuch der Widersetzlichkeit. Untertitel: "Moderne, Zeitgeist, Revolution". In der Tat, hatte man die schönen Künste für die Sache des Fortschritts nicht längst verloren gegeben?
Gegen Bevormundung
Misiks Intervention stößt auf großes Zukunftsinteresse. Endlich spricht jemand den Künsten beim Umwälzen der Gesellschaft wieder eine Schlüsselrolle zu! Misik schreibt: Es gelte mehr denn je, alle diejenigen Verhältnisse umzuwerfen, in denen Menschen unterdrückt und bevormundet werden. Da bleibt kein Platz für Ambivalenzen. "Fickt die Ambiguitäten"! Dieser Tage präsentierte der Autor sein Buch in der Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. Moderator war niemand Geringerer als Kultursenator Klaus Lederer (Die Linke).
Misik, 56 Jahre alt, nennt die Kunst im Gespräch einen "Seismografen, der das Erdbeben nicht nur misst, sondern es mitauslöst". Seiner eigenen "éducation artificielle" im Wien der 70er- und beginnenden 80er-Jahre gedenkt er mit Glut in den Augen. Die Befreiung menschlicher Lebensweisen sei für ihn seit jeher mit neuer, radikaler Kunst verbunden gewesen. Er sagt: "Kunst hat Klassenschranken. Sie muss einem ,beigebracht‘ werden. Dazu bedarf es einer Sprache, die alle diejenigen verstehen, die nicht mit dem goldenen Löffel im Mund aufgewachsen sind." So auch er.
Als politischer Journalist nimmt Misik Maß an Heine, Tucholsky und Orwell. Fortschrittliche Theorie bedürfe ihrer adäquaten Form. Misik sagt: "Was schlecht geschrieben ist, ist in den allermeisten Fällen auch schlecht gedacht." Misiks eigenes Buch fußt auf einer Reihe von Grundannahmen. Dazu gehört die Idee wechselseitiger Bezüglichkeit. In einem vitalen Kapitel seines Bandes demonstriert Misik, wie im Fin de Siècle das "Ideal" der heimischen Sozialdemokratie, verkörpert in der Figur Victor Adlers, im Ideengestöber von Freud, Loos und Co Gestalt annimmt. Umgekehrt scheinen die Höchstleistungen des Roten Wien ohne die Gestaltungsvorschläge der Modernisten undenkbar.
Geld als Lebenssaft
Wie ergänzen sich aber kursierende Energien? Wie summieren sie sich zur gesellschaftsverändernden Kraft? Misiks Lieblingsbeispiel lautet: Honoré de Balzac. Dieser Autor beschrieb im frühen 19. Jahrhundert die neue Rolle des Geldes als Lebenssaft der Natur. "Bei Balzac findet man, was Karl Marx später die ,totale Theorie‘ nennen sollte. Er zeigt, wie sich die Gesellschaft im Zeichen des Geldverkehrs ausdifferenziert. Wie der Arme buckelt. Und darüber selbst jämmerlich wird." Wobei er jene Wut speichert, die ihm zu revolutionärem Bewusstsein verhelfen soll.
Inzwischen sind neue Empfindlichkeiten an die Stelle alter Fortschrittsideen getreten. Gehört nicht gerade das Erbe der alten Avantgarde(n) entsorgt? Misik winkt ab. "Es ist normal, dass mit jedem Fortschritt Übertreibungen entstehen." Die Technik kultureller Aneignung hält Misik für unentbehrlich. "Natürlich muss man sich in die Erzeugnisse anderer Kulturen vertiefen, um sie in die eigene Welt herüberzuholen." Ein solcher Diebstahl laufe in beide Richtungen. "Die Aneignung geschieht von unten nach oben wie auch von oben nach unten. Der Punkt ist: Die unterdrückte Kultur hat immer auch der herrschenden Elemente entnommen. Die diese vorher aus der unterdrückten entführt hatte."
Der Konformitätsdruck
Die wahre Gefahr bestehe im Konformitätsdruck. "Wie viele provokante Dinge bleiben ungesagt, weil ihre Urheber einen Shitstorm befürchten? Orwell schrieb: Die größte Angst, die ein politischer Autor haben muss, ist diejenige vor seinem Publikum. Wohlgemerkt: nicht die vor den Widersachern, sondern vor den eigenen Parteigängern!"
Wie weit fortgeschritten ist die Entpolitisierung der Künste? "Das Ende der Ismen wurde spätestens in den 1990ern ausgerufen. Die Frage nach der verbliebenen, politischen Relevanz‘ wird seitdem unaufhörlich gestellt." Besagte Relevanz finde sich heute nicht unbedingt in radikalen Kunstwerken wieder, sondern bevorzugt "auf radikalen Kongressen und Symposien, die in den Ausstellungshäusern von Freitag bis Sonntag abgehalten werden". Dort finden die immer selben Vertreter einer Theorie-Bubble zusammen. Und unterhalten sich miteinander "in hermetischer Sprache".
Besitzstandswahrung, wohin das Auge reicht. Misiks Motto lautet anders. Es stammt von Victor Adler: "Wir wollen nicht gemütlich sein." (Ronald Pohl, 5.6.2022)