Protestaktion von Klimaschützern im Februar: ein sehr unvorteilhaftes Denkmal für Wiens Bürgermeister Ludwig.

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Es war ein Spruch, wie er mühsame Imagepflege mit einem Schlag zunichtezumachen vermag. Als von der Parteitagsbühne immer mehr Protest gegen das Lieblingsbauprojekt herunterschwappte, platzte Ernst Nevrivy der Kragen. Er sehe nicht ein, warum er in den eigenen Reihen die in Wien-Donaustadt geplante Stadtstraße verteidigen müsse, konterte der eben dort regierende Bezirksvorsteher in seiner Gegenrede. Die SPÖ habe geschlossen hinter dem Bürgermeister zu stehen, der – und dann kam’s – "wochenlang von den Grünen und anderen Heis’ln dort draußen beleidigt wird".

Gejohle im Publikum, doch dem Verteidigten wird das Lachen im Hals stecken geblieben sein. Als Stadt- und Parteichef Wiens, der auch um ökoaffine Wähler buhlt, kann Michael Ludwig keine Freude damit haben, wenn ein Verbündeter eine in Zeiten der Klimakrise hoffnungslos antiquierte Figur auferstehen lässt: den roten Betonierer, der jede grüne Regung niederplaniert.

Mit dieser Nachred’ ringt die Partei spätestens seit der grünen Sternstunde von Hainburg. Zwar mischten sich im Dezember 1984 auch junge Sozialistinnen und Sozialisten unter die Demonstranten, dank deren Hartnäckigkeit die SPÖ-geführte Regierung den Bau des geplanten Wasserkraftwerks letztlich aufgab. Doch in rufprägender Erinnerung blieben jene zornigen Gewerkschafter, die das in den Donauauen besetzte Areal im wahrsten Sinne des Wortes auf eigene Faust räumen wollten.

Immer mehr vom Beefsteak

Spätestens mit Hainburg und dem folgenden Einzug der Grünen ins Parlament konnte der Ökogedanke, wie der Politologe Anton Pelinka sagt, nicht länger als "tolerierte Spinnerei" abgetan werden: Der bisher gepflogene "traditionelle Modernismus" – je mehr gebaut wird, desto besser für die Sozialdemokratie – geriet in Verruf.

Weil das Proletariat schrumpfte und überdies von der FPÖ geködert wurde, konnte sich die SPÖ nicht leisten, grünbewegte Wähler zu ignorieren, analysiert Pelinka: Bis heute sei die Partei zwischen den beiden Polen hin- und hergerissen – wie gerade in der Debatte um die Stadtstraße Aspern zu sehen sei.

"Beefsteak-Sozialismus" nennt Nikolaus Kowall in Anlehnung an den 1950 verstorbenen Nationalökonomen Joseph Schumpeter das einstige Erfolgsrezept der Arbeiterbewegung: "Die Botschaft war: Euer Stück wird jedes Jahr größer. Die Konsequenz waren ständige Ausbauprogramme – von der Elektrifizierung über Wohnungen bis zu den Straßen." Bis Ressourcenknappheit und Umweltfolgen einen Strich durch die Rechnung machten.

Hinter der Wählerschaft zurück

Als Wortführer der widerspruchsfreudigen Sektion 8 hatte sich Kowall einst den Ruf des Parteirebellen erworben, als Bezirksfunktionär in Wien-Alsergrund steht er nun auch im aktuellen Streit auf der kritischen Seite. Für seine Zustandsanalyse macht der studierte Volkswirt, der an der Fachhochschule des BFI in Wien forscht und lehrt, einen Ausflug ins Philosophische. Die SPÖ habe nach 1945 nie eine Erzählung über erfüllten Wohlstand abseits ewigen Wachstums gefunden, sagt er: "In der ökologischen Frage ist die Partei bis heute zurück – auch hinter der Wählerschaft."

Wer vergangene Jahre Revue passieren lässt, findet genügend Anhaltspunkte für Kowalls Urteil. Sozialdemokratisch geführte Bundesregierungen haben die Umweltpolitik nicht ignoriert, aber selten zur Priorität erkoren. Die bereits im Parteiprogramm von 1998 geforderte Ökologisierung des Steuersystems etwa fand unter roten Kanzlern nur in bescheidenen Dosen statt. In 22 Jahren großer Koalitionen mit der ÖVP führte die SPÖ nie das Umweltministerium. Überbordend stark dürfte das Interesse nicht gewesen sein.

Nun, in der Opposition, lässt es sich naturgemäß leichter motzen. Mit Julia Herr hat die SPÖ eine Nachwuchshoffnung zur Umweltsprecherin gemacht, die aus dem Reservoir der kritischen Jugend stammt (aber wegen Urlaubs für diesen Artikel nicht zu erreichen war).

An Vorschlägen und Vorwürfen an die türkis-grüne Regierung fehlt es nicht, doch geht es hart auf hart, rückt der Ökoanspruch mitunter rasch ins Hintertreffen. Im Kampf gegen die Inflation propagiert die SPÖ, die Mehrwertsteuer auf Gas, Strom, Heizöl und Sprit zu senken – ungeachtet des Umstandes, dass höhere Preise jene, die es sich leisten können, zum Energiesparen motivieren würden.

Nicht nur Autonarren

Und in Wien, wo Rot seit Jahrzehnten dominiert? Auch da finden Klimaschützer genügend Anlass für Kritik, angefangen bei der stiefmütterlichen Behandlung der Radfahrer. Doch gleichzeitig gibt es Facetten, die das Klischee der autonarrischen Betonpolitik Lügen strafen. Mit einem öffentlichen Verkehrsanteil von 38 Prozent vor der Pandemie sticht Wien international heraus. Laut Bilanz der Umweltorganisation Global 2000 aus dem Jahr 2020 ist die Hauptstadt das einzige Bundesland, wo die Zahl der Pkws pro Einwohner in der vergangenen Dekade gesunken ist.

Außerdem taugt die Stadtstraße, die nach dem vom grünen Verkehrsministerium verfügten Aus für den Lobau-Tunnel im Zentrum des Konflikts steht, nur bedingt als Horrorszenario. Jede Straße ziehe noch mehr Autos an, sagen die Kritiker – aber ist ein 3,2 Kilometer langer, mit Tempo 50 beschränkter Zubringer für ein Neubauviertel mit zehntausenden Einwohnern wirklich der große Sündenfall? Außerhalb Wiens würden viel monströsere Projekte gebaut, wenden Verteidiger des Projekts in der SPÖ ein. Nur könnten Protestler dorthin nicht so bequem mit der U-Bahn fahren.

Es sei "absurd", gerade die Stadtstraße zur Fahnenfrage zu stilisieren, urteilt Maria Maltschnig, die als Ex-Aktivistin der Sektion 8 keinesfalls zum Traditionalistenflügel zählt. Die Kritiker blendeten verkehrsdämpfende Maßnahmen wie das flächendeckende Parkpickerl ebenso aus wie die Notwendigkeit des Kompromisses, sagt die Leiterin des Renner-Instituts, der Parteiakademie der SPÖ: "Die Bewältigung der Klimakrise passiert im gesamtgesellschaftlichen Konsens oder gar nicht. Deshalb muss man alle mitnehmen." Dass die Menschen in den Speckgürtel statt in die Donaustadt ziehen, könne sich aus ökologischer Sicht wohl niemand wünschen.

Ein Aufschrei der Jungen

Doch in dem Konflikt geht es um mehr als bloß um ein Projekt. "Die Stadtstraße ist der Aufhänger, um gehört zu werden", sagt Stefanie Berger, eine der lautesten Proteststimmen vom Parteitag: "Lange hat uns die SPÖ nicht ernst genug genommen und die soziale Frage gegen das Klimaproblem ausgespielt."

Insofern wertet die Vorsitzende des Verbands der Sozialistischen Student_innen Wiens die Konfrontation am 28. Mai durchaus als Erfolg: "Wir haben zwei Stunden über Klimafragen diskutiert." Zwar hat am Ende eine erdrückende Mehrheit einen Anti-Straßenbau-Antrag niedergestimmt, doch auch Nevrivys "unmögliche Entgleisung" habe viel Widerspruch geerntet. Nicht nur das zeige, dass die Wiener SPÖ trotz allem mehr als eine Betonpartei sei: Es gebe ja auch erfreuliche Fortschritte wie den städtischen Klimafahrplan.

Kritikerkollege Kowall will das unvorteilhafte Bild ebenso wenig unwidersprochen stehen lassen. Umso ärgerlicher sei es, wenn ein Politiker genau diesen einseitigen Eindruck erwecke. Bei künftigen Wahlen drohe sich Imagepflege dieser Art zu rächen, fürchtet er: "Denn die urbane Mittelschicht, aus der mittlerweile das Gros der SPÖ-Stimmen kommt, wird noch umweltbewusster werden."

Schwere Fehler seien passiert, ergänzt Berger und verweist damit auf die städtischen Klagsdrohungen gegen Aktivistinnen und Aktivisten vom Dezember. Die Parteiführung habe die Tragweite des Themas unterschätzt, sagt sie: "Die Klimafrage ist das Anliegen, das die Jugendlichen politisiert. Das ist eine große Chance, die die SPÖ nicht verpassen darf." (Gerald John, 6.6.2022)