Josef Bitzinger empfängt in seinem Lager im fünften Bezirk – zwischen Senf und Bierkisten. Hier lagert der Gastronom, was an den Würstelständen bei der Albertina und im Prater serviert wird. In der Kühlzelle sei er noch nie fotografiert worden, sagt er: "Wir haben die coolsten Fotos gemacht."

STANDARD: Es ist schon wieder einiges los in Wien. Sind die Leute nach so langer Enthaltsamkeit hungrig?

Bitzinger: Am Würstelstand sind die Leute sehr wohl hungrig. Jetzt läuft die Nachtgastronomie auch wieder gut. Die Stimmung der Menschen in der Stadt ist nicht schlecht. Das kann man wirklich nicht sagen.

STANDARD: Auch die Touristen sind offenbar zurück.

Bitzinger: Da fehlen uns schon noch ordentliche Komponenten. China komplett, so wirklich viele Amerikaner seh ich auch nicht. Dann fehlen uns naturgemäß die Russen, aber wo es ganz stark hapert, ist noch der Kongressbereich.

Josef Bitzinger (70) denkt nicht ans Aufhören. Da werde man nur alt und krank, sagt er.
Robert Newald

STANDARD: Leben Ihre Würstelstände von den Touristen?

Bitzinger: Nein. Die Basis ist der Wiener. Das ist ganz eindeutig. Das ist bei allen Würstelständen so.

STANDARD: Aber im Ersten wohnen ja kaum Wiener.

Bitzinger: Wir haben im Normalfall aber hunderttausend Arbeitsplätze hier. Es gibt die tollsten Geschäfte, wo die Leute einkaufen gehen. Was den sogenannten Einheimischen betrifft: Die Stadt ist multikulti. Das wird einem jeden aufgefallen sein.

STANDARD: Sie sind 50 Jahre im Geschäft. Da wird sich viel geändert haben. Junge Leute sind etwa sehr auf Ernährung bedacht. Zum Würstelstand kommen sie wohl eher weniger?

Bitzinger: Glatte Fehleinschätzung. Gerade das junge Publikum, und da vor allem am Abend und in der Nacht, kommt unglaublich gern zum Würstelstand.

STANDARD: Vegetarier oder Veganer essen dann halt Pommes.

Bitzinger: Ja, Pommes rot-weiß ist die klassische Alternative für die Vegetarier. Früher hat es den fleischfressenden Menschen und den Vegetarier gegeben. Der Vegetarier ist weitgehend durch den Veganer ersetzt worden. Aber es gibt viele, die sagen, jetzt esse ich einen Tag kein Fleisch, oder zwei, oder eine Woche.

STANDARD: Sie machen sich also keine Sorgen, dass Ihnen die Wurst essende Kundschaft wegstirbt?

Bitzinger: Nein. Der Anteil der Bevölkerung, der Fleisch konsumiert ist nach wie vor sehr, sehr groß. Wir essen 60 bis 65 Kilogramm im Jahr.

STANDARD: Sonst hat sich nichts geändert über die Jahrzehnte? Vielleicht kommen deswegen die Leute gern.

Gemeinsam mit seiner Frau mache ihm das Geschäft immer noch Freude. Ob eines seiner Kinder – das jüngste wird elf – den Betrieb übernehmen wird, weiß er noch nicht.
Robert Newald

Bitzinger: Das wirklich Witzige ist, dass die Käsekrainer, die heute der Blockbuster ist, ja nicht uralt ist. Die ist erst Ende der 1960er entstanden. Früher gab es die Burenwurst – die Haße – und die Frankfurter. Und in den 1970ern hat man die Grillplatten bekommen, die Würste wurden nicht mehr ausschließlich im heißen Wasser gewärmt.

STANDARD: Täuscht es, oder werden die Würstelstände immer weniger?

Bitzinger: In den 1980ern sind viele Würstelstände in Kebab- oder Nudelstände oder sonst was umgewandelt worden. Der Trend ist eindeutig gestoppt. Was im Ersten erneuert wurde, sind keine Kebabbuden geworden, sondern Würstelstände.

STANDARD: Sie haben nie gezweifelt, dass das funktioniert?

Bitzinger: Ein bisserl habe ich schon darüber nachgedacht, aber wirklich nur ein bisserl.

STANDARD: Während Corona war die Stadt teilweise ausgestorben. War das die größte Krise Ihrer Laufbahn?

Bitzinger: Ja. Wobei Krisen hat es immer gegeben. Der Erste Golfkrieg hat am 15. Jänner 1991 angefangen. Da war die Gastronomie leer. Um halb acht sind alle daheim gesessen, haben im Fernsehen angeschaut, wie die Bomben auf Bagdad gefallen sind. Diese virtuelle Kriegsführung hat bis dahin niemand gekannt. 9/11 war eine Zäsur, aber nur ein kurzer Hacker. Wirklich stark haben wir die Finanzkrise gespürt. Da sind so Geschichten wie Compliance aufgekommen. Das ist zumindest für einen Würstelstand nicht schlecht. Eine Einladung beim Würstelstand als große Compliance-Geschichte hinzustellen wäre ja übertrieben. Aber das hat ganz Wien gespürt.

STANDARD: Und jetzt?

Hier die Würstel, die er seiner Kundschaft serviert.
Robert Newald

Bitzinger: Sind das riesige Verwerfungen. Vor Covid ist es der Wirtschaft 2019 sehr, sehr gut gegangen. Es haben durchgehend alle Branchen eigentlich recht gut Geld verdient, was sich in der Konsumation im Restaurant und im Tourismus widerspiegelt. Es hat sich ja niemand vorstellen können, dass der Staat uns die Betriebe zusperrt. Am Ende der Zeit war die Gastronomie in Wien neuneinhalb Monate zu – länger als eine Schwangerschaft.

STANDARD: Nicht wenige Hotels haben zugesperrt, ein Wirtesterben gab es nicht. Wie kann das sein?

Bitzinger: Ein Restaurant ist ja nicht pflutsch weg, weil es kein Geschäft gemacht hat. Das wird dann zugesperrt, oder irgendjemand hält einen Minibetrieb oder eine Konzession aufrecht, sonst kann man das ja nur sehr aufwendig hochfahren. Auch die Hilfen sind angekommen.

STANDARD: Manche sind sogar kräftig überfördert worden.

Bitzinger: Wo es Probleme gegeben hat, war in den ganz großen Einheiten, wenn Sie zum Beispiel in einer GmbH fünf Hotels drinnen haben, dann kommen Sie mit der Förderung nicht sehr weit. Bei einem kleinen Hotel oder einem Restaurant ist man ganz gut drüber gekommen.

STANDARD: Geholfen hat wohl auch die Kurzarbeitshilfe?

Bitzinger: Bei uns in der Gastro war das schon ein bisschen ein Problem. Es ist ja nur ein Teil der Arbeitskosten ersetzt worden. Wenn man den Betrieb hochgefahren hat, wollten alle arbeiten, und die Mitarbeiter haben sich gestritten, wer noch in Kurzarbeit bleibt. Am 16. Mai, als wir aufgesperrt haben, war der Erste auch noch leer. Und im ersten Lockdown im April hätten wir so ein schönes Schanigartengeschäft gemacht, ich bin jeden Tag gegangen und hab meine Blumen gegossen im Schanigarten, aber das war’s.

STANDARD: Da gab es für alle noch viele Berg-und-Tal-Fahrten.

Bitzinger: Der Höhepunkt war dieses furchtbare Attentat im ersten Bezirk am letzten Tag vor dem Lockdown. Da war überhaupt die Stimmung im Keller. Und Gastronomie ist immer eine Stimmungsfrage, eine ganz besondere Stimmungsfrage ist der Würstelstand. Sie stehen im Freien, sind dem Wind, dem Regen oder der Sonne ausgesetzt, sehen auf der heißen Grillplatte die Würstel braten. Und was machen Sie dann? Sie essen à la Pratz. Mit der Hand, einfach so in den Mund stecken. Das ist archaisch.

In das Wehklagen, dass junge Leute nicht mehr wirklich anpacken wollen, stimmt Bitzinger, lange auch Kammerfunktionär, nicht ein. Man könne ihnen nicht verübeln, wenn sie ein bisschen lustig seien.
Robert Newald

STANDARD: Weniger archaisch sind die gestiegenen Preise, auch im Wirtshaus. Sparen die Menschen jetzt?

Bitzinger: Nein. Wirklich merken tut man es nicht. Aber der Wiener ist extrem verwöhnt, was die Preise in der Gastronomie anlangt. Wien war in Europa immer der billige Jakob.

STANDARD: Das hat sich deutlich geändert. Scheint aber, dass sich viele Leute das noch leisten können.

Bitzinger: Aber die Verwerfungen durch die Krise, die dann durch den Krieg verstärkt worden sind, haben die Leute im Kopf drinnen. Dass Menschen zum Beispiel sagen, ich bin draufgekommen, ich muss nicht 40 Stunden arbeiten. Vielleicht komme ich mit 25 Stunden durch.

STANDARD: Das verstärkt jetzt auch den Arbeitskräftemangel?

Bitzinger: Das betrifft ja nicht nur die Gastronomie. Das höre ich vom Steuerberater, vom Anwalt, vom Agenturchef, vom Fleischhauer, vom Bäcker. Die Gastronomie verfolgen die Mitarbeitergeschichten seit einer Ewigkeit.

STANDARD: Es heißt oft, die Jungen wollen nicht mehr richtig anpacken.

Bitzinger: Ich habe schon vor 50 Jahren gehört, dass die Jungen deppert sind und faul. Persönlich bin ich der Meinung, sie haben sich nicht wirklich verändert. Sie können einem jungen Menschen nicht verübeln, wenn er ein bisschen lustig ist.

STANDARD: Was muss man können, damit man bei Ihnen beim Würstelstand arbeiten kann?

Bitzinger: Können brauchen Sie gar nichts. Sie müssen nur wollen. Das Würstelbraten, das Umdrehen, das Schneiden, das können Sie bei uns lernen. Da brauchen Sie ein paar Tage dafür. Bis man wirklich gut ist, braucht man im Durchschnitt drei Monate.

STANDARD: Sie sind das dann wohl. Ans Aufhören denken Sie nach den Jahrzehnten Arbeit nicht?

Bitzinger: Nein, da wird man nur alt und krank und deppert, schleißig und graupert. (lacht) (Regina Bruckner, 6.6.2022)