In Österreich hätten hier Geborene die Möglichkeit, nach sechs Jahren österreichische Staatsbürgerinnen oder Staatsbürger zu werden.

Foto: Getty Images / iStock / Elmar Gubisch

Österreich hat im März 2022 eine Marke geknackt: Durch die Fluchtbewegung aus der Ukraine leben nun erstmals neun Millionen Menschen im Land. Etwa 1,5 Millionen von ihnen haben nicht die österreichische Staatsbürgerschaft. Das entspricht etwa der Einwohnerzahl Münchens. Lebten sie in Bayern, hätten zwar nicht alle, aber einige bessere Chancen, deutsche Staatsbürger zu werden. Deutschland wendet, anders als Österreich, das bedingte "ius soli" an: Kommen Kinder dort zur Welt und sind ihre Eltern über acht Jahre rechtmäßig im Land, werden sie automatisch Deutsche.

In Österreich hingegen hätten hier Geborene die Möglichkeit, nach sechs Jahren österreichische Staatsbürgerinnen oder Staatsbürger zu werden. Meist scheitert es aber an den Finanzen der Eltern. Verbleiben diesen monatlich nicht 1625,71 Euro netto zum Leben, bleiben ihre Kinder Fremde im eigenen Geburtsland. 250.000 dieser Söhne und Töchter gibt es in Österreich. Geht es nach der ÖVP, sollen sie von der politischen Teilhabe ausgeschlossen bleiben.

Schleichende Demokratieentwertung

In Wien wird diese schleichende Demokratieentwertung besonders sichtbar: 30,7 Prozent der Wienerinnen und Wiener dürfen nicht mitbestimmen, im 15. Bezirk sind es gar 42 Prozent. Obwohl sie arbeiten, Steuern zahlen und viele weit über zehn Jahre im Land sind, soll ihnen das "hohe Gut" der Staatsbürgerschaft nicht zuteilwerden. Dass es keinen Änderungsbedarf gibt, davon zeugt laut ÖVP auch die hohe Einbürgerungszahl im ersten Quartal 2022. Diese geht allerdings hauptsächlich auf Einbürgerungen der Nachkommen von NS-Opfern im Ausland zurück.

Obwohl sie arbeiten, Steuern zahlen und viele weit über zehn Jahre im Land sind, soll ihnen das "hohe Gut" der Staatsbürgerschaft nicht zuteilwerden.
Illustration: Fatih Aydogdu

Gerne fällt in diesem Kontext auch das Stichwort Pull-Faktor, also jene Signalwirkung, die eine mildere Einbürgerungspolitik auf migrationsbereite Menschen hätte. Etwa dann, wenn die vorgeschriebene Aufenthaltsdauer von derzeit zehn auf sechs Jahre reduziert würde. Für Migrationsforscher Rainer Bauböck ist das ein nicht haltbares Argument: Es gibt keine Studien, die nachweisen, dass eine verkürzte Aufenthaltsdauer einen Pull-Effekt auslöst, sagt er zum STANDARD. Dauert die Einbürgerung zu lang, geht allerdings der integrative Effekt, den zahlreiche Studien bei schnellerer Einbürgerung verzeichnen, verloren. Das kann nicht im Sinn der ÖVP sein.

An den (zu) langen Wartezeiten ist aber nicht nur das Gesetz schuld, es liegt auch an den Landesbehörden, die dieses vollziehen. Gerade in Wien, bei der Einwanderungsbehörde MA 35, liegt trotz Reformprozesses noch einiges im Argen. Würde man heute einen Antrag auf Einbürgerung stellen wollen, bekäme man erst 2023 einen Termin.

Arton D.

Politisches Engagement mit Hindernissen

Arton kam als Kind nach Österreich und maturiert derzeit an der HTL Spengergasse in Wien. An seiner Schule hat sich der kosovostämmige Schüler zwei Jahre lang als stellvertretender Schulsprecher engagiert. Motiviert hat ihn dabei der Wunsch, Dinge zu verändern und seine Mitschüler und Mitschülerinnen "glaubwürdig zu vertreten". Aber das Engagement war auch eine Art Kompensation: "Ich darf bei der Wahl nicht mitstimmen, aber hier in der Schule ist es egal", sagt Arton. In Zukunft möchte er weiterhin politisch aktiv bleiben, etwa in der Bezirkspolitik oder bei lokalen Bürgerinitiativen. "Es gibt mir ein gutes Gefühl, wenn ich gefragt werde und mitbestimme", sagt er.

Seine Eltern haben bisher die österreichische Staatsbürgerschaft nicht beantragt. Arton auch nicht, denn es sei eine große finanzielle Hürde. Derzeit beschäftigen Arton vorrangig Sorgen, wie er ein Studium finanzieren soll.

Als jemand, der durch das österreichische System erfolgreich durchmarschiert ist, empfindet es Arton als ungerecht, dass "sich viele Österreicher nicht so gut mit Geschichte und der Sprache auskennen" und dennoch die Staatsbürgerschaft "einfach so geschenkt bekommen haben".

Christina H.

Überraschend lange Fristen bis zum Antrag

Mit 31 Jahren will Christina H., die vor neun Jahren von Aachen nach Wien kam, endlich einem Beruf nachgehen, der ihr Freude bereitet. Bislang war das nicht der Fall: Um sich das Jusstudium zu finanzieren, arbeitete die Deutsche in zahlreichen Kanzleien, dabei aber nie in dem Bereich, der sie am meisten interessierte: dem Strafrecht. Im April bewarb sie sich bei der Wiener Polizei. Sie kassierte eine Absage. Denn: Um im öffentlichen Dienst zu arbeiten, braucht es den hiesigen Pass. Eine Ausnahmeregelung, die in begründeten Fällen davon absieht, kam bei ihr nicht zur Anwendung.

Christina beschaffte alle Unterlagen für den Einbürgerungsantrag, den sie ohnehin stellen wollte: "Mein ganzes Leben ist ja in Österreich." Bis es zu einem Erstgespräch kam, verstrichen sechs Wochen. Sie rechnete mit zwei Monaten, bis sie den Antrag bei der zuständigen Wiener MA 35 stellen könnte. Weit gefehlt. "Ich bin aus allen Wolken gefallen, als ich den Termin sah", sagt Christina. Dabei sei sie unbescholten, dem Staat nie auf der Tasche gelegen. Gerade das könnte ein Problem sein: Ob ein Kredit, den sie fürs Studium aufgenommen hat, die Einbürgerung verhindert, wird sie am 21. 12. 2022 erfahren.

Simona und Francis A.

Bestrafung von pflegenden Angehörigen

Als ihre kleine Tochter als österreichische Staatsbürgerin 2020 das Licht der Welt erblickte, sah das Ehepaar Simona und Francis A. auch seine Zeit gekommen: Das ständige Verlängern von Aufenthaltstiteln und die begrenzten Jobmöglichkeiten sollten für den Nigerianer Francis ein Ende haben. Er beantragte die österreichische Staatsbürgerschaft.

Für sein Masterstudium an der TU Wien kam Francis 2011 nach Österreich und lernte zwei Jahre später seine Frau kennen. Sie heirateten. Kurz davor war er nicht nur bei Simona, sondern auch bei deren Bruder eingezogen. Seit Simonas Mutter tot ist, ist sie dessen Sachwalterin. Ihr Bruder, Pflegestufe 4, hat seit seiner Geburt eine körperliche und geistige Behinderung. Allein kann er nicht leben. "Francis wurde zu einem wichtigen Teil seines Lebens", sagt Simona.

Das, was auf die Antragstellung folgte, bezeichnet sie darum als "unmenschlich". Die Mindestsicherung, die ihr kranker Bruder bezieht, käme dem Schwager in "wirtschaftlicher Betrachtungsweise zugute". Die Behörde MA 35 schmetterte den Antrag ab – trotz Deutsch- und Geschichtstests, trotz Vollzeitjobs. Der Gesetzgeber stellt ihn also vor die Wahl: entweder den Schwager fallenlassen oder Staatsbürgerschaft.

Shizuko S.

Ein Leben lang Japanerin in Österreich

Shizuko S. blickt auf ein Leben in Österreich zurück: Vor 51 Jahren kam die damals 23-Jährige aus Japan nach Wien. Seit 23 Jahren arbeitet sie nun schon im Flagship-Store der Augarten-Porzellanmanufaktur im Ersten. Ob sie mit Mitte 70 nicht genug vom Arbeitsleben habe? "Ich kann mich einfach nicht davon trennen", sagt Shizuko und lacht. Sie sei immer noch für die Einschulung neuer Mitarbeiterinnen zuständig.

Der Gedanke, Österreicherin zu werden, kam ihr lange Zeit nicht in den Sinn. "Einen Aufenthaltstitel hatte ich ja", sagt Shizuko, "ich wollte Japanerin bleiben." Das änderte sich, als ihre Mutter zu ihr zog. Als diese bettlägerig und dement wurde, versuchte sie Pflegegeld zu beantragen: Weder Japan noch Österreich gaben es ihr.

Durch die Erfahrung mit ihrer mittlerweile verstorbenen Mutter habe sie mit ihrer alten Heimat gebrochen. "Meine Familie ist schon älter oder tot, und die Jungen kenne ich nicht mehr", sagt Shizuko. Damit sie keine Probleme kriegt, wenn sie älter wird, beantragte sie vor zwei Jahren die Staatsbürgerschaft und absolvierte den Deutsch- und Geschichtstest. Eine Beglaubigung aus Japan verzögerte alles. Seither wartet sie. "Ich bin neugierig, was mir jetzt fehlt." (Elisa Tomaselli, Sebastian Haller, 4.6.2022)