Der langjährige ÖVP-Spitzenpolitiker Andreas Khol argumentiert in seinem Gastkommentar dafür, nur an kleinen Schrauben bei der Staatsbürgerschaft zu drehen. Eine Reform brauche es nicht. Lesen Sie auch die Replik der Politikwissenschafter Rainer Bauböck und Gerd Valchars sowie des Soziologen Max Haller darauf und den Gastkommentar von Rapperin Ebru Sokolova: "Wieso ist euch meine Stimme 'wuascht'?".
In regelmäßigen Abständen bricht die Diskussion auf: Sind die Regeln für den Erwerb der Staatsbürgerschaft nicht zu streng? Ich trete für die derzeitigen Regeln ein, sehe aber auch Verbesserungen für die Zukunft.

Sechs Punkte für den Ist-Zustand:
1. Der neue Patriotismus der Österreicherinnen und Österreicher ist wichtige Grundlage unserer Gemeinschaft. Unsere Republik ist heute ein Staat, auf den wir alle stolz sind, ein Staat, den alle wollen. Die Erste Republik ist daran zugrunde gegangen, dass sie ein Staat war, den niemand wollte. Nach den Gräueln des nationalsozialistischen Unrechtsstaats begann sich das Bekenntnis zur österreichischen Nation langsam zu entwickeln. Heute ist unser Land eine Willensnation, die wir erhalten und schützen wollen.
2. Die Österreicherinnen und Österreicher schätzen daher die Staatsbürgerschaft sehr hoch ein: Eine deutliche Mehrheit will bei den derzeitigen Regeln bleiben, zeigten jüngst Umfragen. In einer Demokratie sollte es selbstverständlich sein, diese Werthaltung zu beachten und zu erhalten.
3. Die derzeitige Regelung ist im europäischen Vergleich sachgerecht und vertretbar. Ausgehend von Maximalfristen (Wartezeiten von 30, 15, zehn Jahren) wird von "Reformern" die Härte des Systems beklagt. In der Praxis erhält der Großteil der Bewerberinnen und Bewerber die Staatsbürgerschaft nach sechs Jahren Aufenthalt: 2020 zum Beispiel erhielten 4514 Bewerberinnen und Bewerber nach sechs Jahren, 917 nach zehn Jahren, 331 nach 15 Jahren und nur 31 erst nach 30 Jahren die Staatsbürgerschaft verliehen. Wer immer sechs Jahre hier ist, Deutsch gelernt hat, sich erhalten kann und einen Antrag stellt, bekommt dieses wertvolle Recht. Es sei denn er legt seine bisherige Staatsbürgerschaft nicht zurück, wird straffällig, kann sich nicht selbst erhalten und lehnt unsere Grundwerte ab.
4. In Österreich geborene Kinder, deren Lebensunterhalt gesichert ist, haben es überhaupt leicht – sie brauchen nach Abschluss der Schulpflicht faktisch nur einen Antrag stellen (lassen) – daher ist fast die Hälfte der Neubürger unter 26 Jahre alt. Die Arbeiterkammer verlangt, dass alle hier Geborenen automatisch das Recht auf die Staatsbürgerschaft haben sollen. Auch in Ländern wie Deutschland, wo diese Regelung neuerdings besteht, gibt es eine Wartefrist, die sogar länger ist als unsere sechs Jahre. In der Praxis macht es also keinen Unterschied: Nur der Antrag muss in Österreich gestellt werden.
Vertretbar und leistbar
5. In den meisten Bundesländern dauert ein Verfahren zur Verleihung unter sechs Monate: In Burgenland, Kärnten, Tirol, Vorarlberg sogar unter vier Monate! Wien veröffentlicht keine Zahlen, aber die Klagen über die ominöse MA 35, welche dafür zuständig ist, sind unüberhörbar. Laut Fachleuten ist manches schikanös. Die von jenen, die nicht hier in die Schule gegangen sind, verlangte "Staatsbürgerkunde"-Prüfung führt kaum zu Beschwerden. Aus den meisten Bundesländern hört man keine Klagen über das Verfahren. Auch die Kosten und das verlangte Einkommen sind nicht unsachlich: Ein berufstätiger Antragsteller muss über ein Nettoeinkommen von 1200 Euro verfügen, das österreichische Medianeinkommen ergibt mehr als das. Auch die Verwaltungsabgaben sind vertretbar und leistbar: für eine Person rund 2000 Euro.
6. Wer will, kann Österreicherin oder Österreicher werden, und das nach sechs Jahren Aufenthalt. Die Statistik Austria hat erhoben, dass 62 Prozent der zweiten Generation der Neuankömmlinge schon die Staatsbürgerschaft haben. Die verbleibenden 38 Prozent? Die größte Einwanderergruppe sind die Deutschen – die wollen, so wie viele Türken und Angehörige westlicher EU- und EWR-Länder, gar nicht Staatsbürgerin oder Staatsbürger werden. Dies trifft auch für viele aus den Balkanländern zu. Darüber hinaus gibt es viele, die ihre alte Staatsbürgerschaft nicht aufgeben wollen – das geht in Österreich in der Regel nicht, die Doppelstaatsbürgerschaft ist eine seltene Ausnahme.
"Die derzeitige Regelung ist im europäischen Vergleich sachgerecht und vertretbar."
Die Vorschläge für neue Regeln gründen oft auf Zahlen, die nicht nachvollziehbar sind. SOS Mitmensch führt ins Treffen, dass 250.000 Menschen, die hier geboren sind, die Staatsbürgerschaft nicht haben. Diese Zahl ist rechnerisch nicht nachvollziehbar. Die Statistik Austria spricht eine andere Sprache. Auch die oft genannten 1,2 Millionen "Fremden" die wegen des angeblich so strikten Staatsbürgerschaftsrechts und des exklusiven Wahlrechts von Wahlen ausgeschlossen sein sollen, müssen kritisch hinterfragt werden: Viele sind nur vorübergehend hier, viele wollen die Staatsbürgerschaft nicht, viele sind Staatsbürgerinnen und Staatsbürger eines anderen Landes, in das sie zurückkehren wollen, viele fürchten um ihren Besitz im Herkunftsland.
Gibt es Änderungsbedarf? Gesetzgeberisch sollte für Auslandsösterreicher im Brexit-Land Großbritannien die Doppelstaatsbürgerschaft erlaubt werden – als Nichtengländer haben sie schwere Nachteile zu befürchten. Der Bund sollte eine Ausrichtungs- und Koordinierungsbefugnis über den Vollzug der Bundesländer haben, um Missstände erkennen und beheben zu können – Stichwort MA 35 in Wien.
Nicht nachvollziehbar
Der Gesetzgeber sollte durch Verordnung die Vollzugspraxis in manchen Bereichen glätten. Warum zum Beispiel eine hier geborene junge Frau, die nach ihrer Matura in Deutschland studiert, nach der Rückkehr noch einmal sechs Jahre warten muss, ist nicht nachvollziehbar, sondern schikanös. Straffällig Gewordene auszuschließen ist zwar richtig, aber Verwaltungsstrafen sollten nur bei ganz groben Verstößen berücksichtigt werden. Wo ich diskussionsbereit bin, ist die Frage der Selbsterhaltungsfähigkeit – diese Beschwerden sollte man genauer untersuchen und allenfalls Änderungen in der Praxis vorsehen. (Andreas Khol, 4.6.2022)