Die Gastronomie ist ein Beispiel für eine Branche, in der eklatanter Mangel an Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen herrscht.
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An die "Welt-Bevölkerung" richtete der Wiener Gastronom Martin Neumann vor wenigen Wochen eine verzweifelte Botschaft: "Leider muss ich euch mitteilen, dass wir vorerst einmal aufgrund von Personalmangels schließen müssen."

Normalerweise serviert Neumann in einem Ecklokal am Leopoldstädter Volkertmarkt Bratlfettnbrot, Gulasch und Schnitzel – bis ihm Koch und Küchenpersonal abhandenkamen. Aus war es mit Heurigenschmankerln und klassischer Wirtshausküche. Wie lange nun das Automat Welt geschlossen bleibt? "Weiß ich nicht genau", sagt Neumann grantig. Er tüftelt an einem neuen System, gut möglich aber, dass er das Lokal abgeben wird.

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Die Gastronomie ist nur ein Beispiel für eine Branche, in der eklatanter Mangel an Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen herrscht. Das Hotel, das nicht aufsperren kann, weil Leute fehlen, der Steuerberater, der keinen neuen Kunden aufnehmen kann, der Installateur, der Aufträge ablehnen muss, die Pflegestation, die geschlossen bleibt: Es herrscht Knappheit an allen Ecken und Enden: besonders bei Technikern, Elektrikerinnen, Spenglern, Schlosserinnen, in der Pflege, am Bau – und eben im Tourismus.

Der Stellenmonitor des ÖVP-Wirtschaftsbunds zählt österreichweit mehr als 281.000 offene Stellen, davon allein 40.000 im Tourismus. Der Stellenmonitor zapft mehr Quellen an als das Arbeitsmarktservice (AMS). Dort kommt man auf gut 15.500 offene Stellen in der Branche. Welche Zahl man auch nimmt – eines ist gewiss: Das Wehklagen ist nicht übertrieben. Gemessen an den Zahlen des AMS hat sich die Lücke binnen drei Jahren fast verdoppelt. Die Erholung von den Folgen der Pandemie kam zur Überraschung vieler schneller als gedacht.

Mehr Wettbewerb um die Arbeitskräfte ist zumindest oft für die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen gut.
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Die Hintergründe wurden hinreichend analysiert. Arbeitsminister Martin Kocher rechnete jüngst im STANDARD-Interview vor, dass in den letzten zwei Jahren nur 20.000 anstelle der sonst üblichen 40.000 Arbeitskräfte neu in die Branche einstiegen. "Und ausländische Fachkräfte sind auch noch ausgeblieben", sagt der Ökonom, der mantraartig betont, dass es in Zukunft nicht einfacher wird.

Auch für AMS-Chef Johannes Kopf wurde die Sache mittlerweile notgedrungen zum Leibthema: "Österreichs Gastronomie-Arbeitsmarkt entwickelt sich immer mehr zu einem Arbeitnehmermarkt", analysiert er in einer aktuellen Spezialauswertung. "Für Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber bedeutet das mehr Wettbewerb, um Arbeitskräfte und oftmals schon einen echten Arbeitskräftemangel", sagt Kopf.

Schwierige Suche

"Automat-Welt"-Wirt Martin Neumann kann das bestätigen. Personal gäbe es schon, aber gute Köche? Da kämen wohl Leute – aber mit Gehaltsvorstellungen, die der Gastronom ins Reich der Fantasie verweist. Die Suche über das AMS hat er aufgegeben. Man hätte ihm Menschen geschickt, die alles Mögliche können und "nebenbei Schnitzel" machen. Damit sei ihm nicht gedient.

Den C-Führerschein haben früher viele Junge vor allem auf dem Land mit 18 Jahren gleich miterworben. Mit der L17-Ausbildung hat sich das geändert. Auch das sei ein Grund für den Lkw-Fahrer-Mangel, heißt es in der Branche.
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Gabriele Jüly sucht ebenfalls mittlerweile lieber "über Mundpropaganda". Die Chefin des gleichnamigen Entsorgungsbetriebs in Bruck an der Leitha zieht an allen Hebeln, dass sie die Aufträge abarbeiten kann. "Manche müssen wir ablehnen." Jüly sucht keine Köche, sondern Lkw-Fahrer. Tausende fehlen österreichweit schon jetzt – die Zukunft, laut Jüly: düster, viele gingen bald in Pension.

Tektonische Verschiebungen

Kein Zweifel: Am Arbeitsmarkt stehen tektonische Verschiebungen bevor. Nicht mehr lange, und die geburtenstarken Babyboomer-Jahrgänge verlassen den Arbeitsmarkt, und vergleichsweise wenig junge Kräfte kommen nach. Die Statistik Austria rechnet damit, dass bis 2030 die Zahl der Menschen im erwerbsfähigen Alter um 170.000 schrumpft. Dabei ist die Lage jetzt schon reichlich angespannt.

Trotz hoher Energiepreise und Ukraine-Krieg brummt der Arbeitsmarkt. Die Mai-Arbeitslosenquote belief sich auf 5,7 Prozent, der niedrigste Wert seit 14 Jahren. Allein beim AMS waren 138.000 offene Stellen gemeldet – ein neues Allzeithoch. Von einem "ausgetrockneten Arbeitsmarkt" spricht gar die Wirtschaftskammer. Das stimmt zumindest teilweise.

Die Kellnerin, die nach Tirol übersiedeln soll, wird dies ungern tun, wenn sie Kind und Wohnung in Wien hat. Schon gar nicht für eine Saisonstelle. In Wien, wo knapp zwei Millionen Menschen leben und das Gehaltsniveau vielfach höher ist, finden sich leichter Mitarbeiter als in einem Tiroler Tal.

Im Burgenland, wo vergleichsweise wenig Industriebetriebe um die besten Köpfe buhlen und zudem Menschen aus Ungarn einpendeln, ist das Problem weniger drängend als im industrielastigen Oberösterreich.

Betriebe reagieren

So mancher Betrieb sieht sich zunehmend mit mutigen Gehaltsforderungen konfrontiert. "Es gibt einen Lohnauftrieb, viele Firmen sind bereit bzw. müssen bereit sein, mehr zu zahlen", sagt Ranja Reda-Kouba vom Unternehmensberater McKinsey. Das gelte speziell im IT-Bereich, auch dort ist die Nachfrage hoch. Viele zahlen mittlerweile auch eine Art "Ergreiferprämie" für fähige Köpfe oder locken mit Vier-Tage-Woche.

Auch IT-Fachleute sind gesucht, wie überhaupt Techniker und Technikerinnen. Bei Gehaltsverhandlungen haben sie vielfach gute Karten.
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Wer es sich leisten kann, bietet Werkskantine, hauseigenen Kindergarten oder Homeoffice. Entsorgungsunternehmerin Jüly wirbt mit "attraktiven Arbeitszeiten. Um 16 Uhr geht man bei uns heim." Anderswo ächzen die Beschäftigten unter der Last der Arbeit, weil Ressourcen nicht aufgestockt werden.

Bettina Grieshofer ist froh, dass sie sich mit dem Problem Personalmangel nicht auseinandersetzen muss. Die Chefin eines schmucken kleinen Boutiquehotels im steirischen Bad Aussee braucht kaum Personal – dank technischer Ausrüstung. Wer hineinwill, nützt einen Türcode via SMS, die Gäste können im Zimmer oder auf dem Balkon frühstücken und kontaktlos auschecken.

Grieshofer hat eine Million Euro investiert, nachdem sie das Haus 2019 gekauft, renoviert und im Juni 2019 als Haus Anna Plochl geöffnet hat. Die 51-Jährige hat eine Kosten-Nutzen-Rechnung erstellt: Personal sei teuer, dass es auch verlässlich sei, sei nicht gesagt. Eine gute Entscheidung, sagt Grieshofer. "Die Leute fühlen sich gebauchpinselt, weil wir ihnen auch vertrauen."

Technik statt Maschine

Ist das die Zukunft? Technik ersetzt menschliche Arbeitskraft? "Bis 2030 werden durch die Digitalisierung und Automatisierung weltweit 600 Millionen Jobs wegfallen", sagt Beraterin Ranja Reda-Kouba. Gleichzeitig würden 750 Millionen neue Jobs entstehen – mit grundlegend neuem Anforderungsprofil.

Für Österreich prognostiziert sie, dass in den kommenden vier Jahren nicht weniger als 70.000 Fachkräfte fehlen werden. "Nur weil es theoretisch möglich ist, einen Job zu automatisieren, heißt es nicht automatisch, dass das auch sinnvoll für ein Unternehmen ist", meint auch WU-Professor Klaus Prettner.

Auch Maschinen kosten Geld. Dennoch geht Prettner davon aus, dass Automatisierung zunehmen wird. Über kurz oder lang würden etwa Lkws eigenständig auf der Autobahn unterwegs sein. Für Gabriele Jüly ist das nur ein schwacher Trost: "Ich werde das in meinem Betrieb nicht mehr erleben." (Regina Bruckner, Andreas Danzer, 6.6.2022)