Es war am 97. Tag nach dem russischen Überfall auf die Ukraine, als die Regierungen der USA und Deutschlands Kiew die Lieferung von modernen Langstreckenraketen anboten – Waffen, die die ukrainische Armee bei der Abwehr des brutalen russischen Vormarsches im Osten dringend benötigen würde. Doch für diese Offensive kommen diese Waffen zu spät.

Die russische Armee ist gerade dabei, eines von Wladimir Putins zentralen Kriegszielen zu erreichen: die vollständige Eroberung der beiden ostukrainischen Bezirke Luhansk und Donezk, die nach Moskauer Lesart zu zwei angeblich unabhängigen Volksrepubliken gehören. Hundert Tage nach Ausbruch des Krieges hat die Ukraine ein Fünftel ihres Staatsgebietes verloren und ist militärisch zunehmend in Bedrängnis.

Hundert Tage nach Ausbruch des Krieges ist die Ukraine militärisch zunehmend in Bedrängnis.
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Das ist nicht nur eine Katastrophe für Millionen geflüchteter Ukrainerinnen und Ukrainer, deren Dörfer und Städte vernichtet wurden, und eine blutende Wunde für die restliche Nation. Es ist auch für die westliche Allianz ein Problem. Denn die USA und die Nato haben es zu ihrem Ziel erklärt, Russland einen Sieg in diesem Krieg zu verwehren.

Was ein Sieg ist, bleibt eine Frage der Interpretation. Aber wenn es Putin gelingt, den Donbass zu kontrollieren, die Ukraine vom Asowschen Meer abzuschneiden und mit dem Gebiet rund um die Stadt Cherson einen Keil in der Mitte des Landes zu halten, dann kann er sich leicht zum Sieger erklären. Der Ukraine und ihren Verbündeten bleibt dann nur eine Option: den Krieg fortzuführen, bis zumindest ein Großteil dieser Gebiete zurückerobert werden kann.

Russische Dampfwalze

Nach Meinung vieler Militärexperten ist das möglich, denn irgendwann geht der russischen Kriegsmaschinerie die Luft aus. Aber es wird dauern, und damit hält auch das Blutvergießen an. Auf die ersten hundert Tage werden noch viele Hundert Tage folgen.

Der Westen hat durch sein Zögern dazu beigetragen, den Krieg zu verlängern – durch Zögern bei den Sanktionen und noch mehr durch Zögern bei der Lieferung schwerer Waffen. Von Anfang an waren US-Präsident Joe Biden und die EU-Spitzen vor allem besorgt, nicht den Konflikt durch die Provokation von Russland zu eskalieren. Putin und sein Außenminister Sergej Lawrow haben durch ständige implizite Drohungen dieses Verhalten gefördert. Genützt hat es nicht: Der Kreml sieht sich längst im Krieg mit der Nato. Aber indem der Westen in diesem Konflikt so lange mit angezogener Handbremse fuhr, hat er dafür gesorgt, dass die Ukraine der russischen Dampfwalze unterlegen ist.

Alternativen zur Fortsetzung des Krieges sind nicht in Sicht. Auch Stimmen wie die von Henry Kissinger, der auf eine Verhandlungslösung mit Gebietszugeständnissen drängt, schlagen als Kompromiss die Rückkehr zu den Grenzen vom 23. Februar vor. Aber durch Reden allein wird Putin nicht dazu zu bewegen sein, die eroberten Gebiete wieder aufzugeben. Das geht nur mit militärischen Mitteln.

Moskau setzt offenbar darauf, dass die USA und die EU bald der Wille verlässt und sie eine Teilung der Ukraine akzeptieren. Auch das würde den Krieg nicht stoppen: Die Ukrainer würden sicher weiterkämpfen, und Putins Ambitionen enden nicht im Donbass.

Mit genügend schweren Waffen aus dem Westen könnte die Ukraine im Sommer das Kriegsglück wieder wenden. Es ist der einzige Weg zum Frieden. (Eric Frey, 4.6.2022)