Sechs Sanktionspakete hat die EU bisher gegen Russland mit viel Mühe und zahlreichen Kompromissen auf den Weg gebracht; das Sanktionsregime gegen Moskau ist dennoch einmalig in der jüngeren Geschichte.

Doch die Zweifel wachsen, ob diese Maßnahmen irgendetwas bewirken: Der Krieg in der Ukraine geht weiter, die russische Wirtschaft ist nicht zusammengebrochen, und die Folgen bekommen auch die EU-Staaten durch explodierende Energiekosten und steigende Inflation zu spüren.

Haben Sanktionen überhaupt einen Sinn? Ein Blick in die Geschichte gibt zwiespältige Antworten, die hier in 13 Thesen zusammengefasst sind.

1. Sanktionen erlauben Demokratien, gegen Unrecht etwas zu tun, ohne viel zu tun

Wirtschaftssanktionen als Ersatz oder Ergänzung von militärischen Maßnahmen sind nicht neu: In den Napoleonischen Kriegen verhängten England und Frankreich gegeneinander Blockaden; das US-Erdölembargo gegen Japan war 1941 ein Auslöser des Angriffs auf Pearl Harbor. Sanktionen sind eine Form der Kriegsführung, allerdings ohne direkte Gewaltausübung, und werden auch völkerrechtlich so gesehen.

In den vergangenen Jahrzehnten verhängten westliche Demokratien immer öfter Sanktionen, um auf Aggressionen oder Menschenrechtsverstöße anderer Staaten zu reagieren. Damit signalisierten sie die Bereitschaft, etwas zu tun, wenn das Völkerrecht oder eigene Werte verletzt wurden, ohne aber das Risiko militärischer Interventionen einzugehen. Es ist oft eine Politik der Symbolik und des äußerlichen Scheins, die gut in die Dynamik moderner Mediengesellschaften passt.

2. Sanktionen wirken eher gegen ganze oder halbe Demokratien als gegen Diktaturen

Sucht man Beispiele für erfolgreiche Sanktionen, stößt man meist auf Südafrika, wo das Apartheidregime in den frühen 1990er-Jahren unter dem Eindruck der internationalen Ächtung von sich aus aufgab.

Sucht man Beispiele für erfolgreiche Sanktionen, stößt man meist auf Südafrika.
Illustration: Fatih Aydogdu

Stärker als die Wirtschaftssanktionen dürfte die weiße Bevölkerung der Sportboykott getroffen haben, vor allem der Ausschluss aus internationalen Rugby-Tournieren. Das alte Südafrika war eine Halbdemokratie: Die Weißen hatten das Wahlrecht und drängten schließlich auf das Ende der Rassentrennung. Allerdings trug auch der Kollaps des Kommunismus zu diesem Sinneswandel bei.

Zahlreiche totale Diktaturen – von Kuba über Venezuela, Irak, Iran bis Nordkorea – haben jahrzehntelange Sanktionen hingegen unbeschadet überstanden. Ein Land, das heute durch Sanktionen besonders verwundbar wäre, ist das demokratische Israel, das deshalb besonders vehement gegen die BDS-Bewegung kämpft, die zum Boykott aufruft, um auf diese Weise die jahrzehntelange Besatzungspolitik zu beenden.

3. Sanktionen treffen die Ärmsten am härtesten – aber vielleicht nicht in Russland

Das moralisch Problematische an Wirtschaftssanktionen ist, dass die breite Bevölkerung darunter viel mehr leidet als die Führung – und dort vor allem die Ärmsten, die oft am wenigsten für die Verbrechen des Staates können. Das war ganz besonders im Irak zu spüren, wo sich in einem Jahrzehnt der Sanktionen etwa die Kindersterblichkeit deutlich erhöht hat.

Im Falle Russlands könnte das anders sein: Die Maßnahmen treffen vorerst vor allem den Lebensstil der Reichen. Je länger sie andauern und je mehr die Wirtschaft darunter leidet, desto größer wird die Not der einfachen Menschen sein.

4. Sanktionen bereichern Eliten und stärken Autokraten

Regimetreue Unternehmer sind häufig die Profiteure von Sanktionen. Sie bereichern sich beim Schmuggel und gewinnen durch die Einschränkung des Wettbewerbs und wachsende Korruption. Das war etwa in Serbien während des Jugoslawienkrieges zu beobachten.

Auch Diktatoren können Sanktionen zur Konsolidierung ihrer Macht nutzen. Die Bildungsschicht wandert aus, das unabhängige Unternehmertum schrumpft, und die Sanktionen geben einen Vorwand, gegen Oppositionelle als Verräter vorzugehen.

5. Sanktionen sind wirkungslos gegen die Kraft von Ideologie und Nationalismus

Im Idealfall haben Sanktionen zwei Wirkungen: Sie schwächen mit der Wirtschaft die militärische Kraft eines Staates, und sie mobilisieren das Volk gegen die Herrschenden. Vor allem das zweite Ziel wird selten erreicht.

Sanktionen funktionieren nur, wenn sich möglichst alle Staaten daran halten.
Illustration: Fatih Aydogdu

Regime können wachsenden Unmut nicht nur durch Repression unterdrücken, sondern auch den schmerzhaften Druck von außen für ihre eigene Zwecke nutzen. Sie appellieren an patriotische Gefühle und rufen zum nationalen Schulterschluss auf. Das gelang sogar der schwarz-blauen Regierung, als Österreich im Jahr 2000 wegen der Regierungsbeteiligung der FPÖ mit einem milden Boykott der EU-Partner belegt wurde.

Vertritt die Regierung eine starke Ideologie, die links, rechts oder religiös sein kann, werden die wirtschaftlichen Bedürfnisse der Bevölkerung diesen Zielen noch mehr untergeordnet. Selbst im Iran, wo westliche Sanktionen Millionen verarmen lassen, konnte die Herrschaft der Mullahs nicht gebrochen werden.

6. Sanktionen bieten starke Anreize zum Bruch und zu unsolidarischem Verhalten

Sanktionen funktionieren nur, wenn sich möglichst alle Staaten daran halten. Das ist in der Praxis doppelt schwierig. Sanktionsbrüche, sei es durch Schmuggel oder illegale Geschäfte mit dem betroffenen Land, sind besonders lukrativ.

Im Kalten Krieg galt Österreich als Hort von Unternehmern, die unter westlichen Sanktionen über die Cocom-Liste verbotene Technologie an die Sowjetunion verkauften; viele wurden damit reich. Aber auch Staaten können profitieren, wenn sie aus der Front ausscheren oder zumindest damit drohen – siehe das Beispiel Ungarn, das offenbar davon profitieren will, dass es russisches Öl wegen des EU-Embargos nun besonders günstig kaufen kann.

Mit der Zeit bröckelt meistens die geschlossene Sanktionsfront: Verletzungen werden toleriert und Maßnahmen aufgeweicht, wenn es finanzielle Vorteile bringt.

7. Sanktionen sind eine harte Prüfung für Allianzen

Kaum ein Thema hat in der Vergangenheit so viel Konfliktstoff zwischen den USA und Europa geboten wie US-Sanktionen gegen sogenannte Schurkenstaaten. Immer wieder verhängten die USA sogenannte Sekundärsanktionen gegen europäische Unternehmen, weil sie die US-Politik unterliefen, die nicht von Europa geteilt wurde, etwa gegenüber Kuba oder Iran.

Auch bei Russland wäre es beinahe dazu gekommen: Die USA standen 2020 knapp davor, Sanktionen gegen den Verbündeten Deutschland wegen des Baus der Ostseepipeline North Stream II zu verhängen. Erst Russlands Angriff auf die Ukraine verhinderte diesen Schritt, da Deutschland von sich aus den Bau stoppte.

8. Rohstoffexporteure werden oft sanktioniert, obwohl es bei ihnen wenig wirkt

Wer Erdöl oder andere Rohstoffe verkauft, ist gegenüber Sanktionen wenig verwundbar. Denn für solche Produkte finden sich immer Abnehmer, wenn auch zu etwas niedrigeren Preisen. Notfalls wird geschmuggelt. Deshalb kann der Ölboykott und selbst ein Gasboykott der russischen Wirtschaft nicht das Rückgrat brechen.

Dennoch sind es besonders oft Ölexporteure, die mit Sanktionen belegt wurden oder werden: Irak, Iran, Venezuela oder jetzt Russland. Offenbar neigen solche Staaten durch die zentrale Kontrolle der Ressourcen zu autoritären und aggressiver Herrschaft. Das ist Teil des sogenannten Ölfluchs.

9. Sanktionen erreichen ihr Ziel nur in seltenen Fällen

Die Bilanz der westlichen Sanktionspolitik ist verheerend: Seit Südafrika haben Sanktionen nicht einmal Erfolg gehabt. Slobodan Milošević in Serbien und Saddam Hussein im Irak verloren erst durch militärische Niederlagen die Macht, im Iran, in Nordkorea, Myanmar oder Belarus trotzen die Machthaber allen Sanktionen.

Das liegt auch daran, dass sie im Grunde einen Regimewechsel anstreben, wogegen sich die Regime leicht wappnen können. "Die Definition von Wahnsinn ist, immer wieder das Gleiche zu tun und andere Ergebnisse zu erwarten." Auch wenn dieser Satz nicht von Albert Einstein stammt, lässt er für die Sanktionen gegen Russland nichts Gutes erwarten.

10. Noch nie wurde eine so vernetzte Volkswirtschaft wie Russland sanktioniert

Doch Russland ist anders: Zwar ein Rohstoffexporteur, aber bis zum Überfall auf die Ukraine eine mit dem Westen stark vernetzte Volkswirtschaft. Das gilt für das Bankwesen genauso wie für die IT-Industrie und auch den Rüstungssektor. Sanktionen gegen einen solchen Staat haben potenziell mehr Wirkung, auch weil sie im Falle Russlands besonders umfassend und konsequent sind. Sie betreffen den Finanzsektor, die Industrie und zunehmend auch die russischen Energieexporte.

Die Sanktionen gegen Russland treffen erstmals eine mit dem Westen bisher stark vernetzte Volkswirtschaft.
Illustration: Fatih Aydogdu

Rund 300 Milliarden Dollar an russischen Währungsreserven in westlichen Notenbanken wurden eingefroren und werden möglicherweise nie zurückgegeben. Auch die Maßnahmen gegen Oligarchen, die ihr Vermögen im Westen geparkt haben, gehen in die Milliarden. Allerdings fordern solche Sanktionen auch von den Staaten, die sie verhängen, einen höheren Preis – im Falle Russlands vor allem durch steigenden Energiekosten und die von ihnen angeheizte Inflation.

11. Importsperren bewirken mehr als Exportboykotte

Russland hat schon in der Vergangenheit riesige Leistungsbilanzüberschüsse angehäuft, und diese sind seit Kriegsausbruch weitergewachsen. Denn Moskau kann Öl und Gas weiter verkaufen, aber wegen der Sanktionen immer weniger importieren.

Wie der US-Ökonom Paul Krugman in der New York Times vor kurzem schrieb, ist der Überschuss ein Zeichen der Schwäche und belegt auch eine wichtige Erkenntnis der klassischen Ökonomie: Nicht Exporte, sondern Importe sind das eigentliche Ziel des Außenhandels.

Ausbleibende Luxuswaren aus Italien kann Russland verschmerzen. Aber das Fehlen an Technologieprodukten und Ersatzteilen für Flugzeuge und Maschinen dürfte die russische Wirtschaft härter treffen als jedes Öl- oder Gasembargo und die Finanzsanktionen. China könnte zwar diese Lücke teilweise füllen, fürchtet sich aber selbst vor westlichen Sanktionen.

12. Die Sanktionen werden Russland schwächen – aber man weiß nicht, wie schnell

Die russische Wirtschaftsleistung wird in diesem Jahr laut Prognosen um rund 15 Prozent schrumpfen. Das ist zwar schmerzhaft, aber nicht katastrophal. Doch wenn die westliche Sanktionsfront längerfristig hält, dann werden der russischen Armee im Laufe des Jahres kritische Komponenten ausgehen.

Wenn die westliche Sanktionsfront längerfristig hält, dann werden der russischen Armee im Laufe des Jahres kritische Komponenten ausgehen.
Illustration: Fatih Aydogdu

Der russischen Industrie fehlen das Know-how und die Maschinen, um diese Lücken zu füllen. Auch sie ist von Importen weitgehend abhängig. In weiterer Folge, so das Szenario, droht die Infrastruktur und die Wirtschaft zu kollabieren und Russland auf das Niveau eines Entwicklungslandes zurückzufallen.

Wie schnell das geschieht und wie es den Kriegsverlauf beeinflusst, ist allerdings ungewiss und hängt auch davon ab, ob sich das Land nicht auf dem internationalen Schwarzmarkt die notwendigen Produkte zu überhöhten Preisen holen kann. Das Geschäft mit Russland wäre für Sanktionsbrecher sehr profitabel.

13. Können Sanktionen auch gegen China wirken?

Die Sanktionen gegen Russland sind möglicherweise auch ein Probelauf für westliche Maßnahmen gegen China, sollte Peking eines Tages Taiwan angreifen oder sonst die Weltordnung gefährden. China ist viel stärker in die globalen Lieferketten integriert als Russland, auch wenn Präsident Xi Jinping diese Abhängigkeit zu verringern versucht.

Harte Sanktionen würden die chinesische Wirtschaft lahmlegen, aber auch der Weltkonjunktur massiv schaden. Bleiben Chinas unzählige Industrieprodukte aus, dann stocken die Lieferketten und steigen die Preise noch viel mehr als heute.

Für die westlichen Demokratien dürfte sich diese Rechnung letztlich als zu hoch erweisen. Das ist eine Grundregel für jede Sanktionspolitik: Sie funktioniert nur bei einem wirtschaftlichen Machtungleichgewicht zwischen Staaten, aber nicht mehr bei einer gegenseitigen Abhängigkeit von gleich starken Volkswirtschaften. (Eric Frey, 4.6.2022)