Ein Mitglied der Taliban patrouilliert in Kabul

Foto: EPA/Stringer

Für ein oder zwei Wochen im vergangenen Sommer gab es kaum ein anderes Thema. Da waren die Taliban gerade in Afghanistans Hauptstadt Kabul einmarschiert und die Welt fragte sich, ob die radikalen Islamisten wieder genauso grausam regieren würden, wie während ihrer ersten Herrschaft bis 2001. Ob sie wieder Ehebrecherinnen in Fußballstadien steinigen, Dieben die Hand abhacken, Frauen und Mädchen zwangsverheiraten und vergewaltigen, sie von Bildung und dem öffentlichen Leben ausschließen würden.

Ein knappes Jahr später ist Afghanistan längst wieder aus dem kurzlebigen Scheinwerferlicht der Weltöffentlichkeit verschwunden. Pandemie und diverse innenpolitische Krisen hatten die prekäre Menschenrechtslage am Hindukusch bald wieder aus den Schlagzeilen verdrängt. Und spätestens mit dem russischen Überfall auf die Ukraine im Februar war es endgültig vorbei mit dem Fokus auf das Unrechtsregime der Taliban. Alles blickte auf den neuen Angriffskrieg in Europa.

Was bleibt, ist eine mediale Kurzzeit-Charmeoffensive der selbst ernannten Gotteskrieger, in der sie mit beschwichtigenden Aussagen ihr Image zu verbessern suchten. Und die Erkenntnis, dass es das reine PR-Manöver war, als das es erfahrene Beobachter des Landes von Anfang an gewertet hatten. Längst wird wieder über Folterungen, Hinrichtungen ehemaliger Sicherheitskräfte und systematische Verfolgung ethnischer Minderheiten wie der Hazara berichtet. Frauen sind wieder von höheren Schulen, Universitäten und den meisten Teilen des öffentlichen Lebens ausgeschlossen. Auch die Burka müssen sie wieder verpflichtend tragen.

Situation hat sich "extrem zugespitzt"

Was ebenfalls bleibt, sind etliche Auslandsafghaninnen und -afghanen, die einst selbst vor den bärtigen Extremisten geflohen sind – und seit deren Wiedereinmarsch in großer Sorge um ihre am Hindukusch verbliebenen Angehörigen leben. "In den Therapieräumen merkt man, dass sich die Situation für Menschen aus Afghanistan extrem zugespitzt hat", sagt Barbara Preitler vom Verein Hemayat, einem Betreuungszentrum für Folter- und Kriegsüberlebende in Wien, zum STANDARD. Die Psychologin und Psychotherapeutin ist Gründungsmitglied von Hemayat und führt selbst viele Therapie-Einheiten für den Verein durch.

Die Sorge um Angehörige in Afghanistan führe bei vielen der einst selbst Geflüchteten zu Retraumatisierungen, berichtet Preitler. Durch die erneute Berichterstattung über Menschenrechtsverletzungen im Land würden häufig posttraumatische Belastungsstörungen auftreten. "Da bricht wieder auf, wovor sie selbst geflüchtet sind", sagt die Psychologin.

Was die Situation noch erschwere, sei ein unsicherer Aufenthaltsstatus. Befände sich eine Afghanin oder ein Afghane noch inmitten eines offenen Asylverfahrens, würde eine Retraumatisierung in der Regel noch schwerer wirken. Die Unsicherheit, sowohl über den Ausgang des Verfahrens als auch über die ungewisse Dauer, verstärke die Negativspirale, weil die körperlichen Alarmsysteme noch stärker hochgefahren seien. "Existenzielle Unsicherheiten wie diese machen auch gesunde Menschen krank", sagt Preitler. "Jemanden, der schon schwerste psychische Verletzungen erlitten hat, noch viel kränker."

Angst um Angehörige statt um sich selbst

Auch schon vor dem Einmarsch der Taliban hätten Menschen aus Afghanistan die Betreuungsangebote von Hemayat verstärkt in Anspruch genommen, erzählt Preitler. Damals noch häufig wegen der Angst, abgeschoben zu werden. Vor der neuen Herrschaft der Taliban hatte die österreichische Bundesregierung Afghanistan nämlich noch als sicheres Herkunftsland eingestuft. Rückführungen waren damit möglich. Seit der Machtübernahme der radikalen Islamisten wurden dagegen keine Abschiebungen aus Österreich mehr durchgeführt. "Die große Angst um die eigene Sicherheit wich der großen Angst um die Angehörigen."

In der psychotherapeutischen Arbeit bei Hemayat geht es vor allem darum, wieder ein gewisses Gefühl der Sicherheit bei den Klientinnen und Klienten herzustellen und vorhandene psychische Ressourcen zu aktivieren. Auch Trauerbegleitung ist oft nötig. Wie über erlebte Traumata gesprochen werden kann und wie weit diese in die eigene Lebensgeschichte integriert werden können, sei dabei individuell sehr verschieden, sagt die Expertin.

Auch der Krieg in der Ukraine hat bei afghanischen Flüchtlingen häufig Retraumatisierungen ausgelöst, heißt es bei Hemayat. Umgekehrt hat sich der Verein auch zur Betreuung von Geflüchteten aus der Ukraine gerüstet. Etwa indem er Dolmetscherinnen und Dolmetscher für Russisch und Ukrainisch anstellte. Noch schlage sich die hohe Zahl von neu in Österreich lebenden Ukrainerinnen und Ukrainern nicht in der Nachfrage nach Therapieplätzen nieder, heißt es vom Verein. Aus Erfahrung mit Kriegen in anderen Ländern wisse man aber, dass die Nachfrage nach Betreuung erst zeitversetzt aufschlage. In den kommenden Monaten rechne man daher mit einem starken Anstieg von Klientinnen und Klienten aus der Ukraine. (Martin Tschiderer, 5.6.2022)