Boris Johnson muss sich einem Misstrauensvotum innerhalb seiner eigenen Partei stellen, nachdem die Schwelle von 54 Briefen von konservativen Abgeordneten, die seinen Rücktritt beantragen, erreicht wurde.

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Regierungskrise in Großbritannien: Nach monatelanger Kritik an Boris Johnson haben innerparteiliche Kritiker eine Vertrauensabstimmung erzwungen. Vor dieser am Montagabend gab sich der Premier unbeeindruckt und appellierte an die Konservativen im Unterhaus, durch ein klares Votum "einen Strich unter die wochenlangen Medienspekulationen" zu ziehen.

Nach den Statuten der Konservativen muss sich der Vorsitzende keiner routinemäßigen Wiederwahl stellen. Eine Abstimmung erfolgt nur dann, wenn mindestens 15 Prozent der derzeit 357 Tory-Abgeordneten dem Parteichef das Vertrauen entziehen. Dies geschieht schriftlich durch Mitteilung an den Chef des sogenannten 1922-Komitees, der seit 1923 die Interessen konservativer Hinterbänkler repräsentiert.

Am Sonntag schließlich waren die 54 Misstrauenserklärungen erreicht, weshalb am Montag in der Früh 1922-Chef Graham Brady vor die Medien trat. Was er mitzuteilen hatte, war bereits zuvor durchgesickert: In Absprache mit der Downing Street solle die Abstimmung noch am selben Tag erfolgen.

Damit tat Brady dem Premierminister den gleichen Gefallen wie im Dezember 2018 dessen Vorgängerin Theresa May. Allgemein gilt nämlich ein rascher Urnengang als vorteilhaft für den Amtsinhaber. Etwaige Absprachen zwischen unterschiedlichen Fraktionsgruppierungen und deren Anführern werden dadurch schwierig, wenn nicht gar unmöglich. Am Nachmittag wollte Johnson der Fraktion das Plädoyer für seinen Amtsverbleib vortragen, später hatten die Abgeordneten zwei Stunden Zeit zur Abstimmung. Das Ergebnis wollte Brady noch am Abend bekanntgeben.

Geduld ausgereizt

Dass damit, wie von Johnson beschworen, die innerparteilichen Querelen beendet sein werden, gilt im Regierungsviertel Westminster als unwahrscheinlich. Zum einen ist der einst als Liberalkonservativer die Hauptstadt London regierende 57-Jährige in den vergangenen Monaten immer weiter nach rechts gerückt und hat damit die Geduld einstiger Weggefährten überstrapaziert.

Zudem fallen viele Regierungsinitiativen vor allem durch großsprecherische Parolen und unzulängliche Durchführung auf.

Gleichzeitig nahm auch unter altgedienten Parlamentariern vom rechten Flügel die Ungeduld zu. Ende des vergangenen Monats entzog etwa der Erz-Brexiteer John Baron dem Chef das Vertrauen mit der knappen Begründung, dieser habe "das Parlament getäuscht".

Der Vorwurf bezieht sich auf die mehr als ein Dutzend Corona-Partys am Regierungssitz in der Downing Street, die das Land seit Monaten empören. Johnson hatte zunächst behauptet, es habe keine Partys gegeben; später leugnete er jede Kenntnis von deren Vorbereitung und beteuerte, er habe Zusammenkünfte mit Alkohol und Snacks "für Arbeitstreffen gehalten".

Die Spitzenbeamtin Sue Gray prangerte in einem Untersuchungsbericht das "Versagen von Führungsqualität und Urteilsvermögen" an. Vom "Vakuum an der Spitze der Regierung" spricht Nick Timothy. Der Mann weiß, wovon er redet: Ein Jahr lang amtierte er bis 2017 als Büroleiter der glücklosen Theresa May.

Krise folgt Krise

Zum anderen stehen den Tories nach dem schweren Rückschlag bei der Kommunalwahl Anfang Mai schon bald neue Schlappen ins Haus, wodurch Johnsons Ruf als stetiger Wahlsieger weiter angekratzt wird. Landesweit liegen die Konservativen seit Monaten deutlich hinter der Labour-Party von Oppositionsführer Keir Starmer.

Am Sonntag erschreckten neue Hiobsbotschaften all jene Tory-Abgeordneten, deren Sitze bei der nächsten, voraussichtlich Mitte 2024 anstehenden Wahl gefährdet sind. Umfragen zufolge dürften die Konservativen bei zwei Nachwahlen am symbolisch wichtigen 23. Juni – dem sechsten Jahrestag des Brexit-Referendums – deutlich verlieren. Beide Mandatsträger mussten nach Sexskandalen zurücktreten.

Seit Beginn der Legislaturperiode waren mehr als ein halbes Dutzend Tories in unappetitliche Vorwürfe bis hin zu Straftaten verwickelt. Das ist sicherlich nicht Johnsons Schuld, womöglich aber Hinweis darauf, dass die Konservativen nach ihrem klaren Wahlsieg im Dezember 2019 und mittlerweile zwölf Regierungsjahren ihrer Sache allzu sicher geworden sind. Zu diesem Eindruck hat das Verhalten des Premierministers beigetragen.

Am klarsten hat dies schon vor einigen Wochen Jeremy Hunt benannt, unter David Cameron und Theresa May nacheinander Kultur-, Gesundheits- und Außenminister. Am Montag bekräftigte der 55-Jährige seine Meinung, wonach seine Partei unter Johnson das Land nicht auf integre und kompetente Weise führen könne: "Wir haben die Wahl zwischen dem Verlust der nächsten Wahl und einem Wechsel. Ich stimme für den Wechsel." (Sebastian Borger aus London, 6.6.2022)