Kaum haben die Briten ihre Queen als Musterbeispiel von Permanenz und stetigem Dienst am Gemeinwesen hochleben lassen, wendet sich die Aufmerksamkeit der kurzatmigen Tagespolitik zu. Fünfzehn Prozent der konservativen Unterhausfraktion, mindestens 54 Parlamentarier, haben schriftlich eine Abstimmung über ihren Vorsitzenden verlangt. Schon am heutigen Pfingstmontag Abend soll sich das Schicksal von Premierminister Boris Johnson entscheiden.

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Gerüchte über den einzig möglichen Weg, den Partei- und Regierungschef zu stürzen, gibt es seit langem. Knapp drei Jahre nach seinem Amtsantritt, zweieinhalb Jahre nach dem klaren Sieg über die Labour-Party des völlig unfähigen Jeremy Corbyn hat Johnsons Sündenregister ellenlange Ausmaße angenommen. In den vergangenen Wochen haben es Vertreter aller Parteiflügel, altgediente Parlamentarierinnen ebenso wie Newcomer aufgeblättert. Es lässt sich in zwei Schlagworten zusammenfassen: Corona-Partys und Inkompetenz.

"Leichtherziger Rechtsbruch"

Erstere sind im Wahlvolk weder vergeben noch vergessen. Zu eklatant war nicht nur die Serie "leichtherzigen Rechtsbruchs", von der am Montag früh der Partei-Intellektuelle Jesse Norman schrieb. Mehr als eindeutig wurde in den Tagen nach dem Bericht der Spitzenbeamtin Sue Gray auch, dass Johnson selbst keinerlei echte Reue empfindet. Ein paar Spitzenbeamte und enge Helfershelfer mussten über die Klinge springen, der Premier selbst glaubt sich über alle Kritik erhaben. Das sorgt, erstmals in einer Karriere voller Lügen und Wortbrüche, aber auch erstaunlichen Auferstehungen, für tiefgreifenden Zorn, ja Verachtung.

Regierungserfahrene Ex-Minister wie der Parteilinke Norman oder die Parteirechte Andrea Leadsom erwähnen aber immer wieder auch die fehlende klare Richtung der Regierung, die ständigen handwerklichen Fehler, die pompösen Ankündigungen ohne jede Folgen.

Dass der Finanzminister alle acht Wochen seinen Haushalt justieren muss, mag man angesichts externer Schocks wie Russlands Überfall auf die Ukraine gerade noch für erträglich halten. Die Konservativen, immerhin seit mehr als zwölf Jahren im Amt, bleiben aber auch Antworten auf tiefe strukturelle Probleme des Landes schuldig.

Wo bleiben Kompetenz und Rechtschaffenheit?

Stattdessen entzückt Johnson den rechten Parteiflügel mit einer mindestens unmenschlichen, womöglich sogar illegalen Asylpolitik, bei der Flüchtlinge nach Ruanda abgeschoben werden sollen. Und plustert sich gegenüber der EU auf, mit der er doch völkerrechtlich gültige Verträge, nicht zuletzt über den Status von Nordirland, unterzeichnet hat.

Wenn Kompetenz und – ein altmodisches Wort – Rechtschaffenheit die einzigen Kritierien wären, müssten die Torys ihren Chef hinwegfegen. Alternativen gibt es reichlich, von Finanzminister Rishi Sunak über Gesundheitsressortchef Sajid Javid, Außenministerin Elizabeth Truss und deren Vorgänger Jeremy Hunt bis hin zu frischen Gesichtern wie Penelope Mordaunt oder Tom Tugendhat.

Das Problem daran: Keine der möglichen Kandidatinnen wirkt überzeugend auf wenigstens größere Teile der Partei. Zu erwarten wäre deshalb ein längerer Nachfolgekampf – kein erfreuliches Spektakel, zumal nicht in Zeiten des russischen Angriffskrieges, bei dem sich Großbritannien parteiübergreifend resolut auf die Seite der Ukraine gestellt hat.

Wenn nicht alles täuscht (Zeitpunkt: Montagmittag), wird Johnson am Montagabend gewinnen. Auf die Marge kommt es an: Seine Vorgängerin Theresa May gewann im Dezember 2018 die Vertrauensabstimmung zwar auch, musste ein halbes Jahr später das Amt aber doch aufgeben. Andere Torys werden sich an 1995 erinnern: Damals gewann der amtierende Premier John Major das Votum. Zwei Jahre später fegte die Wählerschaft die Konservativen für 13 Jahre aus dem Amt. (Sebastian Borger aus London, 6.6.2022)