Die beiden ehemaligen Lehrkräfte einer NMS, Verena Hohengasser und Felix Stadler, berichten im Gastblog über ihren Besuch in Estland und den Austausch mit estnischen Lehrerinnen und Lehrern. 

Wenn man vor großen Herausforderungen und Problemen steht, hilft es ja meistens, ein wenig über den Tellerrand zu blicken. Seit einigen Jahren fahren wir daher mit Kolleginnen und Kollegen in andere Länder, um deren Bildungssysteme kennenzulernen, Schulen zu besichtigen und internationale best-practice-Beispiele zu sehen. Heuer waren wir mit einer Gruppe in Estland. Das estnische Bildungssystem ist, wenn es nach Pisa geht, eines der effizientesten und besten Bildungssystem Europas, das obendrein auch noch relativ fair ist. 

Während unserer vier intensiven und hochspannenden Tage in Tallinn haben wir dutzende Lehrerinnen und Lehrer getroffen, mit Menschen aus dem Bildungsministerium, von der Lehrkräfteausbildung und dem NGO-Bildungssektor diskutiert und zwei Schulen besucht. Dabei wurde uns von Gespräch zu Gespräch und von Stunde zu Stunde immer offensichtlicher, dass wir im österreichischen Bildungssystem noch viel Luft nach oben haben: von der Organisation des Systems über die Möglichkeiten der Schulautonomie bis hin zu Fragen der Transparenz und verfügbaren Daten. Nachdem Estland auch nicht zaubern kann, wären alle dortigen Lösungen auch bei uns umsetzbar. Wir wollen hier nun kurz unsere größten Learnings und spannendsten Eindrücke teilen.

Ein Blick auf das estnische Schulsystem.
Foto: imago images/Michael Weber

Die Gesamtschule steht außer Zweifel 

Das estnische Bildungssystem ist grundlegend anders aufgebaut als das österreichische. Das beginnt beim vorhandenen Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz. So besuchen 84 Prozent der Ein- bis Dreijährigen und 95 Prozent der Drei- bis Siebenjährigen einen Kindergarten. Nach dem Kindergarten folgt eine neunjährige gemeinsame Schule, die alle Kinder im Alter von sieben bis 16 Jahren besuchen. Die allermeisten (ca. 90 Prozent) dieser neunjährigen Gesamtschulen sind öffentliche municipality-Schulen, also sind im Zuständigkeitsbereich der Gemeinden. 

Auf unsere Nachfrage, ob diese Art der Gesamtschule denn auf viel Widerstand stößt und ob sie politisch bekämpft wird, haben wir nur verständnislose Blicke geerntet. Wie in den allermeisten europäischen Ländern, waren unsere estnischen Kolleginnen und Kollegen eher erstaunt darüber, dass wir unsere Schülerinnen und Schüler im Alter von zehn Jahren in verschiedene Schultypen schicken.

Eine einheitliche, standardisierte Prüfung beendet die neun Jahre Pöhikool. Im Anschluss daran gibt es dreijährige höhere Schulen, entweder das Gymnasium oder berufsorientierte Schule. 

Echte Schulautonomie

Hierzulande wird das Wort Schulautonomie ja gerne als Synonym für Einsparungen und Notlösungen am einzelnen Standort verwendet. Nicht so in Estland. Die Direktorinnen, Direktoren und Schulen haben eine unglaubliche Autonomie. Die Direktorinnen und Direktoren stellen all ihre Lehrerinnen und Lehrer selber an und können diese auch selber kündigen. Starre, einheitliche Dienstrechte gibt es nicht, Mindestlöhne aber sehr wohl. Die Dienstverträge schauen so sehr unterschiedlich aus. Manche Lehrerinnen und Lehrer unterrichten 22 Stunden, andere nur 15 Stunden, weil sie sonst die Mathe-Koordination leiten oder Schulentwicklung, Reflexionsgespräche mit Kolleginnen und Kollegen machen. Auch die Gehälter sind teilweise flexibel, können von den Schulleiterinnen und Schulleitern bestimmt werden und basieren nicht nur auf der Anzahl der Dienstjahre. Karrierepfade und Anreize für junge Lehrerinnen und Lehrer werden so möglich. 

Aber auch die Curricula sind teils autonom. Wir haben Schulen besucht, die haben nur eine Vier-Tage-Unterrichtswoche. Am fünften Tag unterrichten diese Schulen im "independent learning", wo die Kids entweder daheim lernen, in Gruppen ins Museum oder in die Natur gehen. Im Anschluss daran zeigen sie den Lehrerinnen und Lehrern per Zoom, was sie heute gelernt haben. Auf unsere verwunderte Frage hin, dass dies schulautonom möglich ist und wer denn die Aufsicht in dieser Zeit regle und wie das stundenabrechnungstechnisch liefe, kam ein leicht verwundertes: "I don't really understand your question. We can decide how we want to teach."

Auch die Notengebung ist autonom. Viele Schulen geben bis zur sechsten Schulstufe gar keine Noten, ab dann gibt es unterschiedliche Systeme. Und so bundeseinheitliche Systeme wie Deutschförderklassen sind undenkbar. Diese große Autonomie funktioniert natürlich nur, weil es in den Schulen Management-Teams gibt (wir erinnern uns an die Möglichkeit unterschiedlicher Dienstverträge) die das alles machen. Da arbeiten dann fünf bis sechs Lehrerinnen und Lehrer, die teilweise noch unterrichten, gemeinsam mit der Direktorin oder dem Direktor an der Leitung der Schule. 

Transparenz und Daten

Es gibt über das estnische Bildungssystem so ziemlich alle Daten, die man sich vorstellen kann. Diese Daten sind für jede einzelne Schule öffentlich einsehbar. So kann man zum Beispiel Ergebnisse der standardisierten Prüfung, die Noten, die Ausbildung der jeweiligen Lehrerinnen und Lehrer, die Fehlstunden, die Größe der Klassen, die Anzahl der PCs, den Background der Schülerinnen und Schüler und noch vieles mehr für jede Schule einsehen und mit anderen vergleichen. Diese Daten werden für fundierte Entscheidungen verwendet. Sowohl das Ministerium als auch die einzelnen Schulen verwenden das als Grundlage ihres Arbeitens und Unterrichtens. 

Und es gibt jährlich einen "satisfacory survey" wo alle Schülerinnen und Schüler gefragt werden, wie es ihnen geht, was sie sich wünschen, wie sie mit ihren Lehrerinnen und Lehrern zurechtkommen und welche Probleme sie haben – einsehbar für alle.

Eine klare Governance 

Die governance-Struktur des ganzen Bildungssystems ist sehr einfach. Fast alle Schulen sind, wie gesagt, öffentliche Gemeinde-Schulen. Der "Bund" überweist den Gemeinden Geld für ihre Schulen. Die einzelnen Gemeinden machen sich mit den Schulen dann ein Budget aus, das diese autonom verwalten können. Der Rest der Entscheidungen wird an und von den Schulen getroffen. Unsere Erklärversuche, was der Unterschied zwischen Bundes- und Landesschulen ist oder was Bildungsdirektionen und Schulqualitätsmanagements (SQM) sind, sind leider kläglich gescheitert. Die Bürokratie ist auf ein Minimum reduziert, die Verantwortlichkeiten sind ganz klar geregelt und der Gestaltungsspielraum ist daher riesig.

Was sind die Herausforderungen?

Ein großes Thema in Estland ist die inoffizielle Zweisprachigkeit: Russisch-Estnisch. Viele Schulen sind entlang dieser zwei Sprachen segregiert. Kaum eine Schule lehrt beide Sprachen, aber alle müssen Estnisch lernen. Mehrheitlich russischsprachige Schulen werden als second-class angesehen. Die Drop-Out-Rate der 16-Jährigen nach der gemeinsamen Schule ist hoch: 20 Prozent der Jugendlichen fallen nach den neun Jahren aus dem System. 

Darüber hinaus sind die Gehälter der Lehrerinnen und Lehrer vergleichsweise gering, was einen Lehrkräftemangel zur Folge hat. 

Fazit

Vor allem im Vergleich mit dem österreichischen Bildungssystem beeindruckt das estnische durch unglaubliche Möglichkeiten an autonomem Handeln und mit seinen klaren Strukturen und Verantwortlichkeiten. Bei unseren Schulbesuchen konnten wir sehen, wie positiv sich das in den Klassenzimmern, bei den Kolleginnen, Kollegen,  Schülerinnen und Schülern auswirkt. All das könnte Österreich auch machen. (Verena Hohengasser, Felix Stadler, 8.6.2022)

Verena Hohengasser war Lehrerin an einer Neuen Mittelschule in Wien und ist Gründerin und Redakteurin der Plattform Schulgschichtn.

Felix Stadler war MS-Lehrer und ist Gründer und Redakteur der Plattform Schulgschichtn.

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