Bisexuelle Zweckehe: Schauspiellegende Marianne Hoppe (links) und Regisseur Gustaf Gründgens (rechts).

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Was wäre, wenn Ödön von Horváth mit Robert Siodmak nach Hollywood gegangen wäre, um seinen Roman Jugend ohne Gott zu verfilmen? Was, wenn Gustaf Gründgens in Paris geblieben wäre, statt 1934 als Protegé von Hermann Göring Intendant in Berlin zu werden? Marianne Hoppe war mit Anfang 20 im Theater die genderfluide Protagonistin eines anderen, fortschrittlichen Frauenbilds. Was hätte entstehen können, wenn sie ihrer Intuition "Raus, nichts wie raus!" gefolgt wäre, statt mit inneren Zweifeln zur Ikone der NS-Filmindustrie zu werden?

Der Fortgang ist bekannt. Horváths Unfalltod 1938, der Umstand, dass er, der vor lauter Angst und Aberglaube alle Gefahren der technischen Zivilisation (Automobile, Aufzüge) mied, ausgerechnet von einem Ast im Sturm erschlagen wurde, wird im Nachhinein oft bis ins Mythische überhöht.

Nicht zuletzt wegen des Romanfragments Adieu Europa, das als eine Art Abschiedsbrief an die Welt, wie er sie kannte, auf dem Schreibtisch zurückblieb. Marianne Hoppe und Gustaf Gründgens heirateten 1936 (verheiratet bis 1946), auch um ihr früheres Leben im gar nicht so untergründigen queeren Underground der Weimarer Zeit vergessen zu machen.

Vergebene Chancen

Nach dem Krieg machte Gründgens weiter Karriere, seine Aufführungen gingen vom Hamburger Schauspielhaus aus um die Welt. Marianne Hoppe spielte Theater bis ins hohe Alter, König Lear mit Robert Wilson, Quartett von Heiner Müller, Thomas Bernhard’ Am Ziel und Heldenplatz in der Regie von Claus Peymann.

Aufarbeitung der Vergangenheit bedeutet über die Konfrontation mit den geschichtlichen Tatsachen hinaus möglicherweise auch die Trauer über vergebene Chancen und ungelebte Möglichkeiten. Wer diese Auffassung vertritt, den erwartet im Buch des Kleist-Biografen und ehemaligen Theaterkritikers der Frankfurter Rundschau Peter Michalzik anregende Lektüre. Horváth, Hoppe, Hitler. 1926 bis 1938 – Das Zeitalter der Masse ist eine offene Gruppenbiografie aus Text- und Bildzitaten. "Ein Buch wie eine Ausstellung" verspricht der Autor, der seine Exponate wie ein postmoderner Kunstkurator arrangiert. Hitler kommt auch vor, in Zitaten aus öffentlichen Reden, dann in Bildern mit Kunstschaffenden, die möglicherweise gerade begreifen, welchen Teufelspakt sie eingegangen sind.

Widerstrebendes Arrangement

Im hektischen, inspirierenden und höchst gefährdeten kulturellen Leben der letzten Jahre der Weimarer Republik erscheint eine Gruppe junger Kunstschaffender in Frankfurt, München, aber auch Berlin. Die einen kehren später Nazideutschland den Rücken, auch ohne verfolgt zu sein, die anderen arrangieren sich zunächst widerstrebend mit dem Regime.

In Fiktion und Historie ein Thema für Generationen, die einen zeichnen in der Folge von Klaus Manns Mephisto-Roman die Angelegenheit in hartem Schwarz-Weiß. Michalzik verlegt sich auf die Grauwerte, nicht nur die der Fotografie. Dennoch bleibt wenig Raum für Schattierungen. Man habe "ja nichts machen können", hieß es nachher oft in der Tätergeneration. Hoppe oder Gründgens haben sehr wohl "etwas gemacht" oder es versucht, geändert hat das bei allen Vorsätzen nichts. Die Idee einer inneren Freiheit, die auch in Ketten noch frei sein will, war im NS-Regime obsolet geworden.

Zentralfigur Horváth

In diesem Graustufenbild erscheint Ödön von Horváth unverhofft als zentrale Figur. Für Michalzik agiert er weit unpolitischer, als wir es bislang gelernt haben. Horváths Schreibweise greife im oberbayrischen Murnau, in Wiener und Berliner Beisln das Sprechen, die Physiognomien und den Habitus der aufgehetzten Masse wie der Opfer ihrer inhärenten Gewalt, meist Frauen, gleichsam induktiv ab – so ganz ohne soziologischen Überbau. Für einen, der mutmaßlich nur hört, sieht er erstaunlich viel.

Als die Masse politisch wirksam wird, verschlägt es dem Dramatiker die Sprache, er braucht Jahre, um sich in der Prosa neu zu orientieren. Horváths Bereitschaft, sich nach 1934 der NS-Filmbranche zeitweilig als "schreibende Hur" anzudienen, wie er es nannte, hält Michalzik für ausgeprägter als in der Forschung bislang angenommen.

Wie aber kommen Horváth und Hoppe zusammen? Sie waren es einmal so um 1933, darauf habe Hoppe den Autor aufmerksam gemacht, als dieser sich bei ihr nach Gründgens erkundigte. Gossip ist jetzt unvermeidlich. Die junge Schauspielerin, die sich hauptsächlich für Frauen interessierte, erwog dennoch das Projekt eines Kindes. Mit der Chat-up-Line "Wenn ich einen Sohn bekomme, dann nenne ich ihn Ödön" gewann sie Horváth – für kurze Zeit. Zum antifaschistischen Power-Couple, nach dem sich die Nachwelt rückblickend sehnen mag, wurden auch sie nicht. (Uwe Mattheiß, 7.6.2022)