Der Vorschlag des langjährigen ÖVP-Spitzenpolitikers, Doppelstaatsbürgerschaften im Brexit-Land zuzulassen, sollte die ÖVP aufgreifen. Zu tun wäre mehr, sagen die Politikwissenschafter Rainer Bauböck und Gerd Valchars im Gastkommentar. Lesen Sie zu dieser Debatte auch den Gastkommentar von Rapperin Ebru Sokolova: Wieso ist euch meine Stimme "wuascht"? sowie von Max Haller: "Einbürgerungen: Vereinfachen und besser informieren".

Illustration: Fatih Aydogdu

Im Jahr 1998 war Andreas Khol Klubobmann der ÖVP und der Architekt einer Reform des Staatsbürgerschaftsgesetzes. Khol erklärte damals die österreichische Staatsbürgerschaft zum "hohen Gut", das seinen Wert dadurch erhält, dass es schwer erreichbar ist. Das war eine Politik des "neuen Patriotismus", der sich nur über Ausgrenzung von anderen seiner selbst vergewissern kann. Im Gastkommentar nennt Khol Österreich jedoch eine "Willensnation". Das wäre nur dann schlüssig, wenn die Überschrift Wer will, der kann auch tatsächlich zuträfe. Ein Faktencheck legt nahe, dass das eher nicht der Fall ist.

Beginnen wir mit Khols Aussage, dass ein Großteil der Bewerberinnen und Bewerber die Staatsbürgerschaft nach sechs Jahren Aufenthalt erhält. Richtig ist, dass heute die meisten Einbürgerungen im Inland nach jenen Gründen erfolgen, die eine Mindestaufenthaltsfrist von sechs Jahren vorsehen– zum Beispiel für EU-Bürgerinnen und EU-Bürger, in Österreich Geborene, (Ehe-)Partnerinnen oder Partner österreichischer Staatsbürgerinnen und Staatsbürger sowie Einbürgerungen aufgrund nachhaltiger persönlicher Integration. Falsch ist jedoch die Annahme, dass diese Einbürgerungen tatsächlich nach nur sechs Jahren Aufenthalt erfolgen. Meist dauert es viel länger, etwa weil die Fristen nach Aufenthaltsunterbrechungen wieder bei null beginnen oder weil das Kriterium des ausreichenden Einkommens ohne Sozialhilfeleistungen nicht immer erfüllt werden kann.

Unnehmbare Hürde

Viel wichtiger ist, wer sich nicht einbürgern lassen kann. Das verlangte Einkommen, das für 36 Monate der vergangenen sechs Jahre vor der Einbürgerung nachgewiesen werden muss, liegt so hoch, dass mehr als 30 Prozent aller Arbeiter in Österreich und mehr als 60 Prozent aller Arbeiterinnen weniger verdienen. Auch viele Österreicherinnen und Österreicher würden also an dieser Hürde scheitern. Hinzu kommen Verwaltungsgebühren je Bundesland zwischen 1400 und 2800 Euro, für ein Paar mit Kind zwischen 2800 und 5500 und in vielen Fällen auch noch Gebühren im Herkunftsland für die erzwungene Rücklegung der bisherigen Staatsbürgerschaft.

Nur so können die im internationalen Vergleich extrem niedrige Einbürgerungsrate und der dramatische Rückgang seit dem Jahr 2003 erklärt werden. Khol vermutet dagegen, dass viele nur vorübergehend hier sind oder die Staatsbürgerschaft gar nicht wollen. Auch hier liegt er falsch: Knapp 60 Prozent der aktuell 1,6 Millionen Nichtstaatsbürgerinnen und Nichtstaatsbürger leben bereits länger als fünf Jahre in Österreich, rund 40 Prozent gar länger als zehn. Und rund 15 Prozent sind überhaupt in Österreich zur Welt gekommen.

Verbotene Doppelstaatsbürgerschaft

Dass Staatsbürgerinnen und Staatsbürger aus den alten EU-Staaten selten die Staatsbürgerschaft beantragen, liegt vor allem daran, dass sie nicht bereit sind, ihre Herkunftsstaatsbürgerschaft aufzugeben. In einer Wiener Umfrage vom letzten Frühjahr gaben 88 Prozent der Deutschen, die nicht an Einbürgerung interessiert waren, das Verbot der Doppelstaatsbürgerschaft als Grund an, und 68 Prozent sagten, dass sie sich sehr wohl für Einbürgerung interessieren würden, wenn sie ihre deutsche Staatsbürgerschaft beibehalten könnten. Deutschland erlaubt bei der Einbürgerung die Doppelstaatsbürgerschaft zwischen EU-Staaten, Österreich jedoch nicht.

"Ihr Wunsch nach Einbürgerung wird nicht weniger legitim, nur weil andere darauf verzichten."

Selbst wenn manche, die alle Kriterien erfüllen, sich trotzdem nicht einbürgern lassen möchten, dann rechtfertigt das doch nicht, anderen Menschen die Staatsbürgerschaft aufgrund ihres Einkommens zu verwehren. Ihr Wunsch nach Einbürgerung wird nicht weniger legitim, nur weil andere darauf verzichten. Wir schaffen ja auch das allgemeine Wahlrecht nicht ab, weil bei der letzten Wahl 25 Prozent auf ihr Recht zur Stimmabgabe verzichtet haben.

Unrichtig ist außerdem auch die Aussage Khols, dass die in Österreich geborenen Kinder, deren Lebensunterhalt gesichert ist, nach Abschluss der Schulpflicht faktisch nur einen Antrag stellen müssen. Sie müssen nämlich alle Kriterien erfüllen, die auch für Neuzugewanderte gelten, und zum Beispiel eine bei Geburt ererbte Staatsbürgerschaft der Eltern zurücklegen. Auch Straf- und Verwaltungsdelikte schließen in Österreich geborene Kinder von Einwanderern dauerhaft von der Staatsbürgerschaft aus. Irreführend ist auch Khols Behauptung, dass es in Deutschland, wo es seit 2000 ein bedingtes ius soli gibt, eine noch längere Wartefrist als in Österreich bestünde. Eine Aufenthaltsfrist gibt es nur für einen Elternteil vor der Geburt des Kindes – derzeit acht Jahre, die laut Plan der Ampelkoalition auf fünf verkürzt werden sollen –, nicht jedoch für die Kinder selbst, die so wie die Abstammungsdeutschen von Geburt an die Staatsbürgerschaft besitzen und zudem auch jene ihrer Eltern beibehalten können, wenn sie überwiegend in Deutschland aufgewachsen sind.

Enormer Aufholbedarf

Khol hält die strengen österreichischen Einbürgerungskriterien im europäischen Vergleich für "sachgerecht und vertretbar". Gerade der internationale Vergleich zeigt aber den enormen Aufholbedarf: In einem Ranking beim Zugang zur Staatsbürgerschaft erreicht Österreich unter 56 Staaten den drittletzten Platz – knapp vor den Vereinigten Arabischen Emiraten und Saudi Arabien.

Positiv hervorzuheben ist, dass Khol im Gegensatz zur ÖVP-Spitze doch auch Reformbedarf sieht: bei der Doppelstaatsbürgerschaft für Österreicherinnen und Österreicher in Großbritannien, die vom Brexit betroffen sind, beim Vollzug des Gesetzes durch die Bundesländer, bei Unterbrechungen der Aufenthaltsfristen, beim Ausschluss aufgrund von Verwaltungsdelikten und beim Einkommenskriterium. Das wäre ja schon eine ganze Reihe von Vorschlägen. Jetzt warten wir gespannt, ob die ÖVP diese auch aufgreifen wird. (Rainer Bauböck, Gerd Valchars, 8.6.2022)