Rituale in einer futuristisch-archaischen Wüstenlandschaft: Performerin Ixchel Mendoza Hernández in Susanne Kennedys Operninszenierung von "Einstein on the Beach".

Ingo Hoehn

Das Theater ringt nicht erst seit der pandemischen Zäsur um seine Erneuerung. Um relevante Inhalte und um Formen, die den hyperaufgeklärten Menschen des 21. Jahrhunderts noch erreichen und faszinieren können. Die deutsche Regisseurin Susanne Kennedy geht dabei vielen voraus.

Mit ihren technologiebasierten, indes hoch sinnlichen Inszenierungen gehört sie zu jenen Künstlern, die für die Bühne eine neue ästhetische Grammatik entworfen haben. Die jüngste Arbeit, die Oper Einstein on the Beach am Theater Basel, läuft als Koproduktion ab Freitag zweimal bei den Wiener Festwochen.

Theater Basel

Hier lebt in einer futuristisch-archaischen Wüstenlandschaft aus Pappmaché-Felsen und einem zum Tempelplatz gewordenen Raumschiffrest eine Gruppe von Menschen, die weihevoll ihren Ritualen und Festen nachgehen und sich dann und wann an Fake-Feuerstellen niederlassen. Ist dies der Schauplatz einer Zukunft, eine neue Gesellschaft?

Schnuckelige Zwergziegen

Es bleibt so rätselhaft wie die Minimal-Music-Oper von Philip Glass selbst, die im Jahr 1976 von Robert Wilson uraufgeführt wurde, keinem erzählbaren Inhalt folgt und bekanntlich auch mit dem Leben des nämlichen Nobelpreisträgers nicht viel zu tun hat.

Sie gilt als Anti-Oper, die von variiert wiederholten Tonsequenzen lebt – in Akte gegliedert ist sie zwar, aber ohne sinnfälligen Aufbau. Die Sprache ist zudem abstrakt. Zusätzlich eingesprochen werden mit technoidem Charme, als wären wir in Cape Canaveral, Kurzdialoge, die in scheinbar ewigen Wiederholungen Fragen behandeln (zum Beispiel die Herkunft eines Menschen) – Antworten bleiben freilich aus.

In Kennedys Inszenierung mischen sich Steinzeit und ferne Utopie. Zwergziegen (echt und schnuckelig) fressen den Zukunftsleuten Grasbüschel treu aus der Hand. Diese tragen Stirnlampen, die das Licht auf die Gesichter zurückwerfen. Auch die Lautsprecher ihrer eigenen Stimmen führen sie mit am Körper.

Playback-Sprechweise

Die Playback-Sprechweise gehört seit jeher zu Kennedys performativem Konzept – die Methode schafft Distanz zwischen dem Ich der Spieler und dem Gesagten und verleiht ihm eine kunstvolle Aura. Präzise bewegen sie dazu die Lippen und wenden sich so auch einzelnen Menschen im Publikum zu.

Dieses kann sich während der dreieinhalbstündigen Aufführung frei bewegen, auch auf die Bühne gehen und sich die Sache aus nächster Nähe anschauen. Sogar Getränke dürfen mitgenommen und der Saal jederzeit für ein Päuschen verlassen werden. Im Orchestergraben dirigiert André de Ridder das Ensemble Phoenix Basel sowie den Chor der Basler Madrigalisten (Renaissancemusik), die in dieser vom bildenden Künstler Markus Selg geschaffenen Landschaft ihren Platz gefunden haben, inmitten von Stelen, einer Höhle und einem Altarraum voll mit verwitterten Statuen (Mumien?), in dem einem Tierkopf gehuldigt wird.

"Computerbarock"

Überall auf den Flächen laufen abstrakte Projektionen, so genannte Fraktale, ins Unendliche variierte farbenprächtige Muster in selbstähnlicher Form, wie sie auch in der Natur vorkommen, bei Ästen oder Wolken. "Computerbarock" nennt es Kennedy im STANDARD-Gespräch.

Besonders eindrücklich und von postapokalyptischer Schönheit sind Bäume, die wie auf einem Filmstreifen vorüberziehen und stets mutieren, von der Auenland-Idylle bis zur Hiroshima-Atompilz-Form. Es gibt viel zum Staunen.

Avatare mit Persönlichkeit

Kinder im Publikum sind dauerhaft gebannt. Immer wieder starten neue bildliche und musikalische Sequenzen. Und die Geigerin Diamanda Dramm sägt betörend durch die Zeit. Wir blicken auf Einstein on the Beach wie in eine Zukunft, die wir selber sein könnten, die zumindest Elemente von uns enthält, gefiltert, variiert, weitergedacht. Die Performerinnen sind wahre Persönlichkeiten, avatarhaft, aber mit individuellen Zügen.

Es sind welche von uns, das ist ganz klar, auch wenn das Publikum mitten unter ihnen deutlich terrestrischer wirkt. Es bewegt sich ohne Scheu durch das Setting, lässt sich auf Treppen oder an Felsen nieder und wird so selbst zur Skulptur.

Akustische Loops und rituelle Abläufe ergeben einen meditativen Fluss, der heute viele ambitionierte Theaterarbeiten prägt, siehe etwa jene von Romeo Castellucci oder Ulrich Rasche. Sogar an Hermann Nitschs Mysterientheater muss man denken. In ihrer digital-lukullischen Ausdrucksweise geht Kennedy aber einen ganz eigenen Weg, der reinzieht und überaus fasziniert. (Margarete Affenzeller aus Basel, 8.6.2022)