Zu viel Sichtbarkeit ist es offenbar für viele im Pride-Monat Juli.

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Pride-Monat ist. Auf Plakatwänden und in Werbungen sieht man sich küssende Frauen und schmusende Männer; Firmen hissen genau wie Stadtregierungen die Regenbogenfahnen – und selbst im Kinderradio wird erklärt, was es im Juni mit dem Regenbogen auf sich hat. Wunderbar. Oder nicht? Wenn es um Kinder geht, dann endet wohl bei manchen die Toleranz.

Müssen Kinder denn wirklich über Homosexualität und Genderfragen aufgeklärt werden? "Frühsexualisierung" sei das, empörend, "aufdringlich sexualisierend". In Wien mauerten Rechtsradikale den Eingang zu einer Bücherei zu, auf dem Mäuerchen stand "#NOPRIDEMONTH", und auf in der Nähe gefundenen Flyern war von "staatsfinanzierter Globohomo-Ideologie" und "Frühsexualisierung" zu lesen. Denn: Gelesen hat am vergangenen Freitag eine Dragqueen, Candy Licious, aus Büchern, die alte Rollenbilder aufbrechen sollen, wie es in der Ankündigung hieß. Zum Beispiel aus "Julian ist eine Meerjungfrau", in dem ein Bub Nixen über alles liebt – und sich mit viel Hingabe in eine verkleidet und von seiner Oma darin bestärkt wird, indem sie ihn akzeptiert, wie er ist. Das muss verhindert werden, meinten also Rechte.

Klischees okay? Papa und Papi nicht?

Eine Kinderbuchlesung mit Geschichten, in denen Buben als Cowboys verkleidet markige Sprüche klopfen und den Colt ziehen, gilt ihnen – und auch dem großen Rest der Gesellschaft – bekanntlich nicht als "Frühsexualisierung". Doch warum eigentlich? Wird ihnen damit nicht schon als Kindern vorexerziert, was "Männlichkeit" und "Weiblichkeit" sein soll, sein muss? Werden Kinder so nicht in Rollenklischees von erwachsenen Frauen und Männern gedrängt? Wenn Mädchen vermittelt wird, dass es wichtig ist, auf ihr Äußeres zu achten, während Buben die Starken mimen müssen? Oder dass seit ein paar Jahren keine Badehosen mehr für Mädchen existieren, sondern ab zwei Jahren nur mehr Hosen mit "Bikini-Oberteil"? Für genau welchen Busen?

Aber lassen wir uns gar nicht auf den unsinnigen Begriff der "Frühsexualisierung" ein, denn der wurde schon seit den ersten zarten Pflänzchen der Sichtbarkeit für Lesben und Schwule zur Waffe, um allein schon ihre Existenz quasi als sexuellen Übergriff auf Kinder zu brandmarken. Es wird damit suggeriert, Kinder würden bereits mit irgendwelchen sexuellen Praktiken konfrontiert, sobald in einem Schulbuch zwei Mütter vorkommen oder sie irgendwo sehen, dass sich ein Papi und ein Papa um ihr kleines Baby kümmern.

Eh nur die Rechten?

Das machen ja nur Rechtsradikale, so wie kürzlich in Wien? Und somit eine relativ kleine Gruppe? Eben nicht. In der Panikmache vor einer "Sexualisierung" von Kindern reichen sich Rechte mit jenen die Hand, die sich der bürgerlichen Mitte zurechnen. In Deutschland wurde etwa vergangene Woche ein Gastbeitrag in der Tageszeitung "Die Welt" veröffentlich, in dem die zweigeschlechtliche heterosexuelle Norm als die einzige "Wahrheit" dargestellt wurde. Jugendsendungen, die Transidentität thematisieren, würden wissenschaftlichen Unfug verbreiten, und eine Meinungssendung, die sich mit Homophobie befasst, würde die "Realität verzerren" – allein deshalb, weil sie darin sagen, dass es Homophobie sowie Hass gegen queere Menschen gibt und ihnen viele deshalb bestimmte Rechte verweigern wollen. Alles nur Einbildung?

Und intergeschlechtliche Personen würden laut dem Gastbeitrag ebenso wenig existieren wie Transmenschen. Der US-Schauspieler Elliot Page, um ein berühmtes Beispiel zu nennen, hat kürzlich darüber geschrieben, wie froh er ist, so aussehen und leben zu dürfen, wie er möchte, trotz einer irrsinnigen Transfeindlichkeit. Er hat im Dezember 2020 seine Transidentität öffentlich gemacht, lebt heute als Transmann – und ist glücklich. Menschen wie Page gibt es also nicht? Oder: dürfte es nicht geben? Und wenn ja, dürfen wir nicht darüber sprechen? Nicht erklären, was es mit ihnen und dem komplizierten Verhältnis von biologischem und sozialem Geschlecht auf sich hat?

Doktor für eh alles

Die Gastautor:innen tragen ihre akademischen Titel, ihre Funktion als Wissenschafter:innen vor sich her, um ihrer Kritik an Kinder- und Jugendsendungen (sie mischen übrigens Formate darunter, deren Zielgruppe älter ist) Autorität zu verleihen. Ein Doktortitel macht auf manche Menschen offenbar noch immer einen großen Eindruck. Die Herren und Frauen Doktoren (die Gastautor:innen verzichten aufs Gendern, versteht sich) müssen es ja schließlich wissen.

Nun, sie wissen es nicht. Sie sind nur einer gewissen Überzeugung. Denn tatsächlich haben die Autor:innen herzlich wenig mit Sexualpädagogik, Genetik, Gendertheorie oder fachlich mit transidenten Menschen zu tun. Sie schreiben in ihrem Gastkommentar trotzdem selbstsicher, dass zwei Geschlechter die Wahrheit seien, Punkt. Nun, da ist aber kein Punkt. "Wissenschaftlicher Konsens ist, dass das Spektrum 'Geschlecht' viel weiter geht" und die Sache etwas vielfältiger ist, wie von "MDR Wissen" in Reaktion auf den Gastbeitrag gut erklärt wird. Auch für Kinder.

Trotzdem schafft es ein solcher Gastbeitrag in eine Tageszeitung, die sich als liberal versteht. Obwohl darin die Kräfteverhältnisse völlig umgekehrt werden und die Mehrheitsgesellschaft als Opfer einer Minderheit inszeniert wird. Kommt Ihnen das bekannt vor? Richtig, das ist der klassische rechtspopulistische Duktus.

Auch kommen die Autor:innen damit durch, dass sie von "Ideologisieren" schreiben, während sie sich selbst davon recht billig reinwaschen, indem sie mit Begriffen wie "neutral" oder "objektiv" um sich werfen – jedenfalls bei den über 600 Unterzeichnenden des Aufrufs, "mit Falschberichterstattung" im öffentlich-rechtlichen Rundfunk "Schluss" zu machen, für den die Initiatorinnen mit ihrem Gastbeitrag werben konnten.

Fehlende Mindeststandards

Die Wendung, geforderte Gleichstellung von verschiedenen Lebens- und Liebesmodellen ins dubiose Schmuddeleck zu schieben und mit "Sexualisierung von Kindern" zu verknüpfen, ist also längst nicht nur Rechten vorbehalten. Davon zeugen die fehlenden Mindeststandards im Austausch über Geschlecht, Geschlechterhierarchien und sexuelle Orientierung. Warum das so ist? Weil es stimmt, was im Kinderradio so einfach und so richtig erklärt wird: Für viele ist es noch immer nicht okay. (Beate Hausbichler, 9.6.2022)