Angela Merkel arbeitet an einem Buch, war am Mittwoch zu erfahren.

Foto: AFP/JOHN MACDOUGALL

Ihre "Uniform" hat Angela Merkel auch als Ex-Kanzlerin nicht abgelegt. Am Dienstagabend, als sie im Berliner Ensemble erscheint, trägt sie, wie all die langen Jahre zuvor, eine dunkle Hose, einen ihrer Blazer und eine Halskette. "Heute geht es mir persönlich sehr gut", sagt sie und lächelt freundlich-entspannt von der Bühne, hinein ins vollbesetzte Theater. Aber natürlich habe sie sich "die Zeit nach ihrer Amtszeit anders vorgestellt", bekennt sie. Die aktuelle Lage beschäftige sie "sehr".

Man merkt im Publikum eine gewisse Erwartung. Es ist das erste Mal, dass sich Merkel nach ihrem Ausscheiden aus dem Kanzleramt ausführlich äußert. Seit dem Dezember 2021, als ihr Nachfolger Olaf Scholz (SPD) übernahm, hatte sie sich rar gemacht. Sie war im Februar eine der Wahlfrauen bei der Kür des Bundespräsidenten, ließ danach über ihr Büro mitteilen, dass sie den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine aufs Schärfste verurteile und hielt im Mai eine Laudatio zum Abschied von Reiner Hoffmann, dem langjährigen Chef des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB). Mehr war nicht – bis eben zum Dienstagabend.

Angela Merkel äußerte sich das erste Mal seit ihrem Abgang ausführlich zur Russland-Politik ihrer Bundesregierung.
DER STANDARD

Erster großer Auftritt

Da lässt sich die Altkanzlerin von "Spiegel"-Reporter Alexander Osang auf der Bühne des Berliner Ensembles interviewen. "Was also ist mein Land?" lautet der Titel der Veranstaltung, die vom Aufbau-Verlag und dem Theater organisiert wurde. Der Journalist hatte, wie er zu Beginn der Veranstaltung erklärt, "immer wieder versucht", Merkel zu porträtieren. Der Effekt laut Osang: "Zum Schluss hat sie eigentlich gar nicht mehr mit mir geredet."

Nun, zum Einstieg, gibt es ein bisschen Smalltalk. Sie habe sich mehr bewegt und mehr gelesen als zu ihrer aktiven Zeit, berichtet Merkel aus ihrem "Rentnerdasein". Fünf Wochen war sie an der Ostsee, sie vertiefte sich in "Macbeth" und "Don Carlos". "Erstaunlicherweise ist es mir nicht langweilig geworden", sagt sie. Die Erholung merkt man ihr an, die 67-Jährige wirkt frischer als im Herbst 2021, und auch gut gelaunt.

Keine Vorwürfe

Doch schnell sind Osang und Merkel beim Thema Nummer eins: dem Krieg Russlands gegen die Ukraine. "Was ich mich natürlich gefragt habe: Was hat man versäumt? Hätte man noch mehr tun können, um diese Tragik zu verhindern?", fragt (sich) Merkel gleich selbst und gibt folgende Antwort: "Es ist eine große Trauer, dass es nicht gelungen ist. Aber ich mache mir keine Vorwürfe. Ich muss mir nicht vorwerfen lassen, ich hab's zu wenig versucht. Das ist beruhigend."

Während ihrer ganzen Kanzlerschaft (2005 bis 2021) habe sie sich "mit den Fragen zur ehemaligen Sowjetunion auseinandergesetzt". 2007 habe der russische Präsident Wladimir Putin zu ihr gesagt, dass der Zerfall der Sowjetunion für ihn "die schlimmste Sache des 20. Jahrhunderts war". Merkel, die ja aus der DDR stammt: "Für mich war es der Glücksumstand meines Lebens." Es habe da also immer einen Dissens zwischen ihr und Putin gegeben. "Es ist nie wirklich gelungen, den Kalten Krieg zu beenden. Ich teile nicht die Meinung von Herrn Putin, aber es ist einfach auch nicht gelungen, eine Sicherheitsarchitektur zu schaffen, um das (den Krieg, Anm.) zu verhindern", meint Merkel und betont: "Eines will ich nochmal ganz klar sagen: Der Überfall auf die Ukraine findet keinerlei Rechtfertigung. Es ist ein brutaler, völkerrechtswidriger Angriff, für den es keine Entschuldigung gibt."

Angesprochen wird Merkel auch darauf, dass sie 2008 den Beitritt der Ukraine zur Nato verhindert habe. Ihre Erklärung: "Es war damals nicht die Ukraine, die wir heute kennen. Es war kein innerlich demokratisch gefestigtes Land." Zudem habe sie Putin nicht provozieren wollen.

Merkel und Putin in Sotschi, Jänner 2007.
Foto: AFP/ ITAR-TASS/DMITRY ASTAKHOV

Zur Sprache kommt noch einmal Merkels Besuch bei Putin in Sotschi im Jahr 2007. Damals ließ Putin seinen Labrador frei herumlaufen, obwohl bekannt war, dass Merkel sich in Gegenwart von großen Hunden nicht wohlfühlt. Dies wurde als Einschüchterungsversuch interpretiert. Ob man es so deuten könne, dass er eigentlich eine lockere Atmosphäre schaffen wolle, will Osang wissen. "Wer's glaubt, wird selig", antwortet Merkel trocken. Dafür bekommt sie viele Lacher und viel Applaus – nicht zum einzigen Mal an diesem Abend.

Es geht auch um ihre neue Rolle. Ist sie jetzt "Bürgerin Merkel", wie Osang meint. Da widerspricht Merkel: "Ich bin keine normale Bürgerin, ich bin Bundeskanzlerin a.D." Sie bekennt auch: "Ich suche noch meinen Weg, ohne von der Seitenlinie reinzukommentieren und meine Nachfolger zu stören." Aber sie wolle schon auswählen dürfen, welche Termine sie nun wahrnehme. Denn: "16 Jahre lang lief alles in diesem Land an meinem Schreibtisch vorbei und ich war irgendwie verantwortlich. Und jetzt muss ich nicht mehr zu allem Stellung beziehen, zum Beispiel wie ich das Neun-Euro-Ticket finde. Es ist nicht meine Aufgabe, Kommentare von der Seitenlinie zu geben."

Wenn sie nun lese, "Merkel macht nur Wohlfühltermine", dann könne sie nur sagen: "Ja!" Dieses "Ja" kommt sehr energisch und fröhlich, das Publikum findet's gut, auch als Merkel eine Ankündigung für die Zukunft macht: "Ich werde mich nicht verkriechen." Wann man sie wieder sehen wird, lässt sie offen. Nur so viel: Sie schreibt jetzt mit ihrer langjährigen Büroleiterin Beate Baumann ein Buch. (Birgit Baumann aus Berlin, 7.6.2022)