Ausnahmsweise beginnt diese Kolumne diesmal persönlich. Wir schreiben das Jahr 1945. Meine Familie kommt nach Österreich. Wir sind Flüchtlinge, vertrieben aus der Tschechoslowakei.
Wir sind zu Fuß gekommen, besitzen nichts als die Kleider, die wir am Leibe tragen. Aber wir werden nicht als Fremde behandelt. Vater und Brüder, aus dem Krieg zurück, dürfen arbeiten, und ich bekomme einen Freiplatz im Internat. Innerhalb kurzer Zeit erhalten wir die österreichische Staatsbürgerschaft. Integration gelungen. Was wäre aus uns geworden, wenn wir den gleichen Bedingungen ausgesetzt gewesen wären wie die Flüchtlinge, die in den letzten Jahren nach Österreich gekommen sind. Wären meine Brüder in die Kriminalität abgerutscht? Junge Burschen, ohne Arbeit und ohne Ausbildung, in beengten Wohnverhältnissen? Vermutlich ja. Und ich, eine verlorene Jugendliche auf dem Land, ohne Aussicht auf die Matura und einen ordentlichen Job? (Gymnasien gab es damals in vielen ländlichen Gegenden noch nicht.)
Die österreichische Staatsbürgerschaft hätten wir nie bekommen. Wir hatten dafür weder das nötige Einkommen und schon gar nicht das Geld für die Einbürgerungsgebühren für eine sechsköpfige Familie.
Bürokratische Schikanen
Einen Vorteil hatten wir gegenüber den heutigen Flüchtlingen freilich: die deutsche Muttersprache. Heute werden von Zuwanderern für den Erwerb der Staatsbürgerschaft Deutschkenntnisse auf dem Niveau B1 verlangt. Das ist ein Niveau, das von vielen Einheimischen nie erreicht wird. Es gibt viele qualifizierte Berufe, die man auch mit geringeren Deutschkenntnissen gut ausfüllen kann.
Nach zwölf Jahren als Deutschlehrerin für Migranten und Migrantinnen kann ich guten Gewissens sagen: Es ist ein gewaltiges Potenzial an begabten und zum Teil hervorragenden Leuten, das wir durch widersinnige Gesetze permanent vergeuden. Von bürokratischen Schikanen gar nicht zu reden.
Die Folgen sind längst bekannt und durch viele Studien belegt: Wegen dieser Gesetze ist allein in Wien ein Drittel der dort lebenden Bürger und Bürgerinnen nicht wahlberechtigt. Das bewirkt, dass in unserer Demokratie die Alten und die Landbewohner über-, die Jungen und die Großstädter aber unterrepräsentiert sind. Überall fehlen geeignete Fachkräfte, und alle wissen, dass sie unter Migranten und Zuwanderern zu finden wären, wenn deren Integration gefördert und nicht durch widersinnige Gesetze behindert würde.
Bundespräsident Alexander Van der Bellen hat vor kurzem zu einer Lockerung der Staatsbürgerschaftsbestimmungen aufgerufen, und praktisch sämtliche seriösen Experten haben ihm zugestimmt. Sie alle bekommen von der ÖVP mantraartig immer die gleiche Antwort: Die Staatsbürgerschaft ist "ein hohes Gut" und darf nicht "entwertet" werden. Das ist eine Haltung, die einer großen Traditionspartei einfach unwürdig ist. Diese Mischung aus Unwissen, Bösartigkeit und Provinzialismus könnten Bundeskanzler Karl Nehammer und Co ruhig FPÖ-Chef Herbert Kickl und den Seinen überlassen. (Barbara Coudenhove-Kalergi, 9.6.2022)