Das indonesische Kollektiv Ruangrupa steht in der Kritik, Kunstschaffende mit BDS-Nähe eingeladen zu haben.

Foto: Nicolas Wefers

Eine Documenta ohne Kritik an ihr ist keine Documenta. Als die Großausstellung vor fünf Jahren unter der Leitung des polnischen Kurators Adam Szymczyk über die Bühne ging, gab es die volle Breitseite. Nicht nur, weil man sich mit der Wahl Athens als zweitem Standort neben Kassel schwer verschuldet hatte – auch inhaltlich wurde kaum ein gutes Haar an der 14. Ausgabe dieser Festspiele zeitgenössischer Kunst gelassen: Überheblich und gönnerhaft seien die Kuratorinnen und Kuratoren gewesen, banal die Kunst, chaotisch die Präsentation, hieß es. Zu allem Überdruss traf die Kritik, die Szymczyk und sein Team an Neoliberalismus und Neokolonialismus äußern wollten, am Schluss sie selbst: Gerade die Athener Kunstszene fühlte sich benutzt und ausgestellt – aber nicht im guten Sinne.

Vor diesem Hintergrund war in Kassel der Druck groß, besonders die Entscheidung betreffend, wer die Documenta 15 kuratieren würde. 2019 wurde verkündet, dass die Wahl auf Ruangrupa fiel, ein Kollektiv mit Sitz in Jakarta, das 2016 für die Kunstausstellung Sonsbeek in Arnheim verantwortlich zeichnete, sonst aber recht wenig in Europa aktiv und ergo kaum bekannt war. Nach dem Szymczyk-Debakel wollte die Findungskommission sicher auch sagen: Seht her, keine Einzelperson an der Spitze, keine Europäer, der globale Süden soll für sich selbst sprechen.

Reisscheunenprinzip

Die Arbeitsweise des Ruangrupa-Kollektivs, das seit 2000 in Jakarta umtriebig ist, Galerien, Festivals und ein Radio betreibt, beruht auf Gleichberechtigung und Austausch – unter anderem mit anderen Kollektiven. So betreibt Ruangrupa zusammen mit Serrum und Grafis Huru Hara die Bildungsplattform Gudskul in Jakarta, bei der Forscherinnen, Künstler, Aktivistinnen, Manager oder Architektinnen Wissensaustausch miteinander betreiben. Die Gudskul, die auch auf der Documenta präsent sein wird, darf als Vorbild für die ganze Schau gelten.

Der kuratorische Ansatz basiert auf einer Praxis, die Ruangrupa mit dem indonesischen Wort für Reisscheune, "lumbung", benennt: So wie überschüssige Ernte in gemeinschaftlich genutzten Reisscheunen gelagert und nach gemeinsam definierten Kriterien unter allen verteilt wird, so sollen auch die geladenen Kollektive und Künstlerinnen miteinander in Kontakt treten, Ressourcen teilen, zusammenarbeiten. Die Eingeladenen sollten dann wieder andere Kollektive und Künstler dazuholen, übernehmen also auch eine kuratorische Aufgabe.

Auch in einem anderen Punkt unterscheidet sich Ruangrupa von Szymczyk: Das Kollektiv interessierte sich tatsächlich für Kassel als Stadt. Einige Ruangrupa-Mitglieder zogen mit ihren Familien nach Deutschland, versuchten ein Gefühl für Leute und Strukturen zu bekommen, auch mit dem Ziel, längerfristige und nachhaltige Verbindungen herzustellen, die die 100 Tage Documenta überdauern. Zu den geladenen Kollektiven gehören zum Beispiel das Instituto de Artivismo Hannah Arendt (Instar), das sich für die Meinungsfreiheit in Kuba starkmacht, oder Fafswag, das sich für die Repräsentation von queeren, indigenen Menschen in der Kreativwirtschaft in Neuseeland (Fafswag verwendet das Maori-Wort Aotearoa für Neuseeland) einsetzt, oder das dänische Trampoline House, das sich für die Rechte Geflüchteter und Asylwerberinnen engagiert.

Politische Denk- und Lebensweise

Es gibt auch weniger aktivistische Kollektive – die Tendenz liegt aber ganz deutlich bei Kunst als Ausdrucksmittel einer durch und durch politischen Denk- und Lebensweise. L’art pour l’art? Fehlanzeige. Die Documenta quasi als Netzwerktreffen für aktivistisch gesinnte Kunstschaffende zu konzipieren ist vielleicht nicht das, was jede und jeder von einer solchen Schau erwartet. Dieser Ansatz ist zwar grundsätzlich kritisierbar, er scheint aber in sich stimmig und durchdacht zu sein. Auch das Publikum soll nicht nur seine Funktion als Beobachter erfüllen, sondern mit den Documenta-Projekten zusammenwachsen – und sei es nur, indem es zum Beispiel das Ruruhaus in der Kassler Treppenstraße als Wohnzimmer fürs Beisammensein verwendet (indonesisch: nongkrong).

Man sieht, dass auch die Sprache der Ruangrupa, also Begrifflichkeiten wie "nonkrong", "majelis" (Zusammenkünfte), "meydan" (Türkisch/Arabisch für Marktplatz) zu verwenden und den Menschen mittels gut verständlichen Glossars näherzubringen, ein ganz elementarer Bestandteil der kuratorischen Idee ist. So mag die Reaktion der Gruppe, nämlich eine Diskussionsveranstaltung ins Leben zu rufen, als sie Anfang Jänner mit Antisemitismusvorwürfen konfrontiert wurde, nicht verwundern.

BDS-Nähe?

In einem Blogpost im Jänner kritisierte die Gruppierung Alliance Against Anti-Semitism Kassel, dass "Anti-Israel-Aktivisten" an der Documenta teilnehmen würden, zum Beispiel Künstler und Künstlerinnen des Kollektivs The Question of Funding, die die BDS-Kampagne unterstützen sollen. Zahlreiche Medien griffen die Anschuldigungen auf, gegen die sich Ruangrupa vehement zur Wehr setzte. BDS (Boycott, Divestment and Sanctions) will einen umfassenden Boykott Israels und wird von der deutschen Regierung als antisemitisch eingestuft. In der kurzfristig angesetzten Reihe "We need to talk" wollte Ruangrupa die Anschuldigungen entkräften, sagte das Format aber nach einer Beschwerde des Zentralrats der Juden in Deutschland ab. Anfang Juni wurde am Ausstellungsort des Kollektivs The Question of Funding eingebrochen. Mehr als 100 an der Documenta beteiligte Künstler sprachen den Macherinnen daraufhin ihre Solidarität aus.

Während die unterschiedlichen Seiten damit beschäftigt sind, nachzuweisen, wer bei der Documenta wie viel BDS-Nähe oder nicht hat, ist das eigentliche Grundproblem ein altes und vieldiskutiertes: wann nämlich Kritik an Israel in Antisemitismus umschlägt. Der erste, vermutlich naive Versuch von Ruangrupa, gerade in Deutschland darüber diskutieren zu lassen, ist gescheitert. Zu bezweifeln bleibt aber auch, ob 100 Tage Documenta ausreichen, um hier noch einmal ins Gespräch zu kommen – und was es dafür bräuchte. (Amira Ben Saoud, 9.6.2022)