Aus wilden Bankivahühnern in Südostasien (im Bild: Hahn und Henne) wurden einst unsere Haushühner – die heute mit Abstand am häufigsten vorkommenden Vögel der Welt.

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Es ist eine tragische Erfolgsgeschichte, die das Haushuhn für sich verbuchen kann. Keine andere Landwirbeltierspezies ist so zahlreich vertreten und weitverbreitet wie Gallus gallus domesticus, das Haushuhn. Ein extrem erfolgreiches Nutztier zu sein bedeutet freilich wenig Gutes.

Mehr als 30 Milliarden Haushühner bevölkern die Erde, zur Welt kommen noch viel mehr: Rechnet man die geschlachteten Tiere dazu, sind es mehr als 80 Milliarden Hühner pro Jahr. Auf jeden lebenden Menschen kommen zehn Hühner.

Aus dem Dschungel

Das schiere Ausmaß der menschlichen Tiernutzung macht das Haushuhn zu dem mit Abstand am häufigsten vorkommenden Vogel und weitestverbreiteten Nutztier des Planeten. Doch wie kam es dazu? Zwei aktuelle Studien werfen ein überraschendes Licht auf den Beginn der ungleichen Huhn-Mensch-Beziehung – und postulieren eine Neuschreibung ihrer Geschichte.

Fest steht, dass die wilde Stammform des Haushuhns bis heute durch die Dschungel Südostasiens streift: DNA-Analysen bestätigen Charles Darwins Verdacht, dass alle heutigen Haushühner vom Bankivahuhn abstammen. Bisher gingen Forschende davon aus, dass dieser Vogel vor etwa 10.000 Jahren im heutigen China oder Pakistan domestiziert wurde und vor rund 7000 Jahren nach Europa gelangte.

Stand das Haushuhn also schon in der Jungsteinzeit auf europäischen Speiseplänen? Weit gefehlt, berichtet nun ein internationales Forschungsteam in zwei Artikeln in den Fachmagazinen Antiquity und PNAS. Demnach ist das Haushuhn viel jünger als gedacht, und das menschliche Interesse daran dürfte keineswegs immer schon konsumgetrieben gewesen sein.

Lockender Reis

Um genauer eingrenzen zu können, wann und wo das Huhn domestiziert wurde, untersuchte das Team die Überreste von Hühnern aus mehr als 600 Ausgrabungsstätten in 89 Ländern. Die ältesten erhaltenen Knochen, die eindeutig dem Haushuhn zugeordnet werden konnten, stammten aus Thailand und waren "nur" 3500 Jahre alt.

Das passt auffällig gut zu einer landwirtschaftlichen Innovation, die zu dieser Zeit in Südostasien ihren Anfang nahm: Trockenreisanbau. Die Forschenden schließen auf einen Zusammenhang zwischen dieser Kulturtechnik und der Annäherung von Vogel und Mensch.

Angelockt von der neuen Nahrungsquelle könnten sich wilde Hühner demnach immer näher an menschliche Siedlungen herangewagt haben. "Wir vermuten, dass das als Katalysator für die Domestikation wirkte", sagte Greger Larson von der Universität Oxford, einer der Studienautoren. Mithilfe der Radiokohlenstoffdatierung konnte das Team zudem das Alter der frühesten Haushuhnknochenfunde in Europa neu bestimmen. Demnach sind die Vögel erstmals vor etwa 2800 Jahren im heutigen Italien nachweisbar. Bis es weiter nördlich auftauchte, dürften noch einmal tausend Jahre vergangen sein.

Gefeierte Exoten

"Dass Hühner heute so allgegenwärtig und beliebt sind, obwohl sie erst vor relativ kurzer Zeit domestiziert wurden, ist verblüffend", sagte Studienautorin Ophélie Lebrasseur vom französischen Centre national de la recherche scientifique.

Erstaunlich ist auch, was die Forschenden sonst noch über die ersten Haushühner Europas ans Licht brachten: Offenbar wurden sie zunächst nicht als Nahrungsquelle betrachtet, sondern als exotische Schönheiten verehrt. Davon zeugen reiche Bestattungen unversehrter Hühner, häufig zusammen mit Menschen. "Unsere Erkenntnisse zeigen, dass unsere Beziehung zu Hühnern in der Vergangenheit viel komplexer war und dass Hühner jahrhundertelang gefeiert und verehrt wurden", sagte Naomi Sykes von der Universität Exeter, ebenfalls Studienautorin.

Von der einstigen Verehrung des Haushuhns als exotischer Gefährte ist nur wenig übrig geblieben. Dennoch schlugen Geologen vor einigen Jahren vor, das Zeitalter des Huhns auszurufen: Die Unmengen an Knochen geschlachteter Vögel, die heute die Erde säumen, würden als Leitfossil unserer Zeit taugen. (David Rennert, 9.6.2022)