Kriegsbedingte Zurückhaltung: Präsident Selenskyj und ...

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... dessen Vorgänger Poroschenko befinden sich im Dauerkonflikt.

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Die ukrainische Innenpolitik war bis unmittelbar vor Beginn der russischen Invasion von größeren Turbulenzen geprägt: Zum einen war da der Konflikt zwischen Präsident Wolodymyr Selenskyj und seinem Erzrivalen und Vorgänger Petro Poroschenko; zum anderen eskalierte auch Selenskyjs Auseinandersetzung mit dem reichsten Mann der Ukraine, Rinat Achmetow, der unter anderem mit der sogenannten Entoligarchisierung unzufrieden war. Die von Achmetow kontrollierten Medien griffen Selenskyj hart an. Der Präsident, der von ihm zunächst unterstützt worden war, gab sich beleidigt.

Doch der 24. Februar veränderte die Lage dann grundlegend. Zwar war Selenskyj auch schon vor dem großen Krieg in der Beliebtheitsskala auf dem ersten Rang gelegen, jedoch lediglich mit Werten um die 25 Prozent – ein gewaltiger Unterschied zu den 73 Prozent, mit denen er die Wahl 2019 gewonnen hatte. In den ersten Umfragen nach Kriegsbeginn im Februar lag die Unterstützung für Selenskyj dann bei 91 Prozent. Dieser Wert mag inzwischen zwar wieder etwas gesunken sein – die breite Unterstützung für den Präsidenten ist aber unbestritten.

Auch der Konflikt mit Achmetow hat sich beruhigt. Der Großunternehmer gilt als größter Einzelspender für die ukrainische Armee. Seine Medien machen beim "Fernsehmarathon" Gemeinsame Nachrichten, der von großen Sendern gemeinsam übertragen wird, an vorderer Stelle mit, was noch Mitte Februar unvorstellbar schien.

Kritik über die Bande

Trotzdem herrscht in der Ukraine kein vollständiger innenpolitischer Waffenstillstand wegen des russischen Angriffskriegs. Da Ex-Präsident Poroschenko zu schlechte Karten hat, um seinen Nachfolger öffentlich zu kritisieren, übernehmen das Abgeordnete seiner Partei Europäische Solidarität sowie seine Nachrichtensender, die dem TV-Nachrichtenmarathon trotz gesetzlicher Verpflichtung nicht beitreten wollten und deswegen aus der digitalen Senderliste genommen wurden. "Dadurch haben sie zehn bis 20 Prozent der Zuschauer verloren", schätzt Medienexperte Andrij Janizkyj von der Kyiv School of Economics. "Die Poroschenko-Sender hätten im Rahmen des Marathons ihre Linie nicht wie gewünscht bringen können, und das Büro von Selenskyj hatte Angst vor möglicher Kritik."

Aus dem Poroschenko-Lager wird Selenskyj oft vorgeworfen, die westlichen Warnungen vor einer großen Invasion nicht ernst genug genommen und sich weniger auf die Finanzierung der Armee als auf verschiedene Bauprojekte konzentriert zu haben. Außerdem gibt es Forderungen nach Aufklärung: Wie konnte es zu einer derart schnellen Besetzung der südukrainischen Stadt Cherson durch russische Truppen kommen? Das will der Staat zwar untersuchen, aber eher erst nach dem Krieg groß thematisieren.

Es geht aber nicht nur um direkte Kritik: Die Unterstützer Poroschenkos schreiben fast alle Erfolge der ukrainischen Armee auf die positiven Entwicklungen während dessen Amtszeit 2014 bis 2019 zu. In der Gesellschaft wird dies durchaus mit Humor quittiert – etwa mit Scherzen wie: "Die Band Kalush, die den Eurovision Song Contest gewonnen hat, wurde während der Amtszeit von Poroschenko gegründet."

Probleme mit QR-Code?

Aber auch das Team um Selenskyj spart nicht mit Stichen gegen Poroschenko: So durfte dieser Ende Mai erst im dritten Anlauf das Land verlassen, um dem Parteitag der Europäischen Volkspartei und der Parlamentarischen Versammlung der Nato beiwohnen zu können. Angeblich konnten die Grenzpolizisten den QR-Code in Poroschenkos Dienstreisedokumenten nicht scannen.

"Ich weiß nicht, ob dies das einzige Problem war. Die Erlaubnis ist das eine – die vorliegenden Strafverfahren gegen Poroschenko sind das andere", betonte der Selenskyj nahestehende Politologe Wolodymyr Fessenko im Radiosender NV. "Ihn nicht rauszulassen, das war aber trotzdem ein Fehler."

Nach Angaben des Online-Mediums Ukrajinska Prawda (Ukrainische Wahrheit) endete Poroschenkos Dienstreise übrigens am 2. Juni, er wurde allerdings nach diesem Datum in London gesichtet – was in Medien und sozialen Netzwerken eifrig debattiert wurde, denn schon seit längerem wird Poroschenko vorgeworfen, zusammen mit dem Putin-nahen Politiker und Unternehmer Wiktor Medwedtschuk an der umstrittenen Zulassung einer Ölpipeline sowie an illegalem Kohlehandel mit den selbsternannten Volksrepubliken im Donbass mitgewirkt zu haben.

Poroschenko belastet

Medwedtschuk selbst war deswegen vor dem 24. Februar in Hausarrest, verschwand dann unter unklaren Umständen, wurde letztlich aber wieder festgenommen und belastete Poroschenko schwerwiegend im Rahmen einer Befragung durch den Inlandsgeheimdienst. Ob seine Aussagen ernst zu nehmen sind, ist aber fraglich.

Der Konflikt zwischen Selenskyj und Poroschenko ist jedenfalls trotz des Krieges noch lange nicht zu Ende, auch wenn er aktuell nun eine untergeordnete Rolle spielt. (Denis Trubetskoy aus Kiew, 9.6.2022)