Die Worte waren sorgfältig gewählt. Olaf Scholz wusste bei seiner Reise ins Baltikum diese Woche natürlich, dass die halbe Welt zusieht. Also betonte der deutsche Bundeskanzler in Litauen mit Blick auf die Waffenlieferungen an die Ukraine: "Niemand liefert in ähnlich großem Umfang, wie Deutschland das tut."

Und er zählte auf, was alles aus Deutschland Richtung Osten geht: Panzerabwehrwaffen, Luftabwehrraketen, gepanzerte Truppentransporter, Haubitzen. Zudem sagte er Litauen Verstärkung für die Nato-Ostflanke zu. Die Botschaft, die Scholz anbringen wollte, lautete: Wir drücken uns nicht weg, wir lassen euch nicht allein.

Im Mai erinnerten der französische Präsident Emmanuel Macron und der deutsche Kanzler Olaf Scholz in Berlin an das Kriegsende 1945.
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Lange Zeit war ihm im In- und Ausland genau das vorgeworfen worden. Gewiss, die deutsche Regierung zeigte sich verbal jeden Tag solidarisch mit der Ukraine. Aber Scholz will bis heute nicht nach Kiew reisen. Seine Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) war dort, auch Oppositionsführer Friedrich Merz (CDU). Es dauerte auch, bis Deutschland bereit war, der Ukraine schwere Waffen zu liefern.

Dass der deutsche Kanzler zur Imagepolitur ausgerechnet das Baltikum ausgewählt hat, ist kein Zufall. Die Regierungen in allen drei Ländern sind – so wie in Warschau – von jeher aus historischen Gründen besonders sensibel, wenn es um Konflikte mit Russland und um die aggressiven Angriffe von Präsident Wladimir Putin gegen die EU und den Westen im Allgemeinen geht.

Zu Putin-freundlich

Allen voran Estland, aber auch Litauen und Lettland fordern in der EU wie in der Nato seit Beginn des Krieges die härtesten Antworten auf den russischen Angriffskrieg, mit Wirtschaftssanktionen und auch militärisch. So nützte etwa die estnische Premierministerin Kaja Kallas bei EU-Gipfeln jeden öffentlichen Auftritt, um zurückhaltende Politik in Partnerstaaten scharf zu kritisieren.

Die bedächtige Haltung von Olaf Scholz kam so in den Geruch, allzu Putin-freundlich zu sein. Selbst in Berlin sah ihn so mancher international isoliert. Der Koalitionspartner FDP mahnt, Deutschland dürfe nicht als "kompletter Bremser und Loser" wahrgenommen werden.

Scholz findet das ungerecht. Er weist immer wieder darauf hin, dass er es war, der einen bis dato einmaligen Kurswechsel in Deutschland eingeleitet hat – nämlich die Aufrüstung der Bundeswehr. In einem Land, dem es aus historischen Gründen traditionell bei diesem Thema die Haare aufstellt, ist das Sondervermögen von 100 Milliarden Euro ein gewaltiger Schritt.

Die estnische Premierministerin Kallas verkündet das Ende ihrer Regierungskoalition.
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Doch wie rasch sich die Dinge ändern und wie unterschiedlich die Interessen und Haltungen im Ukraine-Krieg sein können, zeigte sich gerade am Beispiel Kaja Kallas. Vor einer Woche zerbrach ihre Regierungskoalition in Tallinn, kurz nachdem die Premierministerin vom Treffen der Staats- und Regierungschefs in Brüssel zurückgekehrt war. Polens Premier Mateusz Morawiecki wiederum kritisierte seit Februar die zögernde Haltung einiger EU-Partner, was den EU-Beitrittskandidatenstatus für die Ukraine betrifft. Er zielte damit vor allem auf Frankreichs Präsidenten, der dabei ebenso bremst wie Scholz oder der niederländische Premier Marc Rutte.

An der Seite Macrons

Versucht man, aus den Debatten um die EU-Haltung zu Putin und zur Ukraine Schlüsse zu ziehen, welche Rolle Deutschland zukommt, so springen seit der Kanzlerschaft von Scholz zwei Dinge ins Auge.

Zum einen versucht der Sozialdemokrat, so wie auch seine Koalitionspartner von Grünen und FDP, auf europäischer Ebene ganz auf die traditionelle Aufgabe seines Landes als gemäßigtes Mitglied der Mitte zu setzen. Dazu gehört auch, dass er im Ukraine-Konflikt von Anfang an auf ein gemeinsames Krisenmanagement mit Emmanuel Macron, dem wichtigsten Partner, aus war.

Noch vor und nach Beginn des Krieges setzten die beiden auf direkte Verhandlungen mit Putin. Die EU als Institution, speziell Außenbeauftragter Josep Borrell, war außen vor. Sie kümmerte sich vor allem um die Vorbereitung der EU-Sanktionen. Die sicherheitspolitischen und militärischen Aspekte wurden weitgehend in der Nato, von Frankreich und Deutschland gemeinsam mit den USA abgesprochen.

Die EU-Länder waren dabei in der Regel Zuseher, vollzogen die großen Linien nach, wie sich beim EU-Gipfel in Versailles Anfang März zeigte. Da waren Scholz und Macron diejenigen, die den anderen die Richtung vorgaben.

Außenministerin Baerbock war in Kiew. Scholz nicht.
Foto: IMAGO/Florian Gaertner

Der Nachteil von Kanzler Scholz auf europäischer Ebene ist aber, dass er eben "keine Merkel" ist, nicht über die jahrelange Erfahrung und Dominanz seiner Vorgängerin verfügt. Dabei war es die deutsche Ex-Kanzlerin, die mehr als ein Jahrzehnt lang, auch nach der Annexion der Krim im Frühjahr 2014, auf Appeasementpolitik gegenüber Putin setzte. Sie handelte 2015 an der Seite des damaligen französischen Präsidenten François Hollande das Minsker Abkommen zum Friedensprozess in der Ukraine aus, persönlich mit Putin. Es wurde nie umgesetzt.

Auch beim Gas setzte sie mit Nord Stream 2 ganz auf Moskau. Ihr Nachfolger Scholz startete also mit schwerer sicherheitspolitischer Last. Und er war es, der – unter Druck, aber immerhin – die umstrittene Pipeline auf Eis legen ließ.

Dass er nicht alle von seiner Politik überzeugen kann, weiß Scholz. Aber er hat nach den Startschwierigkeiten eines erkannt: Egal was er tut, er muss es den Deutschen und der Welt besser erklären. (Birgit Baumann aus Berlin, Thomas Mayer, 9.6.2022)