Sie wachsen aus dem Orchester heraus, die schlafenden Tänzer und Tänzerinnen: Die zwei Männer setzen sich inmitten der Streichersektion langsam in Bewegung, die zwei Frauen regen sich unter den Notenpulten der Bläserabteilung. Das aufgespaltene Klangforum (rechts Bläser, links Streicher) erfüllt die Halle G des Museumsquartiers derweil mit enthemmter Klanggestik. Ruppige Streicherglissandi und aggressive Tremoli explodieren, fanfarenartige Bläserfluten und aufgewühlte Einzelstatements werden jedoch von Geräuschmassen abgelöst. Vom Band kommend, versetzen sie das Tanzkollektiv in Bewegung.
Skulpturalem Innehalten
Iannis Xenakis’ Kraanerg bleibt in der Choreografie von Emmanuelle Huynh eine vieldeutige, dicht gearbeitete Erzählung. Sicher ist: Dem Tanzquartett (Jerome Andrieu, Lucie Collardeau, Élodie Cottet, Théo Le Bruman) wird zunächst Individualität eingehaucht; die vier changieren zwischen Ausgelassenheit, skulpturalem Innehalten, Traumverlorenheit und Sehnsucht nach Gemeinschaft. Hin und wieder bildet man einen Kreis. Geht es um Geborgenheit in der Gruppe? Sie zeigt schnell Brüche, weicht einem kämpferischen Gestus, der sich dem "fünften Tänzer" (dem Dirigenten) zuwendet, der angriffig umkreist wird.
Versöhnliche Gruppe
Eindringlich diese Konfrontation mit der Musikinstanz. In diesem abstrakt-ekstatischen Stück scheinen ja auch die antiautoritären Studententumulte der späten 1960er ebenso konserviert wie Xenakis’ revolutionäre Sehnsüchte. Die Tanzeroberung der Dirigentensphäre, von der aus Sylvain Cambreling das formidable Klangforum lenkt, führt jedoch nicht zum Gewaltexzess. Es folgt eine Art versöhnliche Gruppenbildung. Am Ende liegen alle – samt Dirigent – am Boden, als wären sie durch eine humanistisch-friedvolle Utopie ins Traumland versetzt worden. (Ljubisa Tosic,9.6.2022)