Im Gastblog rät die Sexualberaterin Nicole Siller, dass Frauen ihre sexuellen Bedürfnisse ausleben sollen.
Warum reden und schreiben in den letzten Jahren deutlich mehr Frauen jedes Alters über weibliche Sexualität, über den weiblichen Körper? Warum wollen Frauen nicht mehr hören, was Männer über weibliche Sexualität erklären? Warum lassen sich Frauen ihre Vulva aus Gips gießen und machen sie so sichtbar? Warum ist es jetzt ein offeneres Thema, was Frauen beim Sex wirklich wollen?

Viele Frauen wollen mit ihrer Sexualität, ihren sexuellen, erotischen, sinnlichen, verführerischen, genussvollen Bedürfnissen, ihrem Körper in jeder Lebensphase und jedem Alter endlich raus aus der Unsichtbarkeit, der Unterdrückung, der Objektivierung, den vielen Tabus, der Scham, den Bewertungen, den Ängsten. Auch aus den oft unbewusst und bewusst mitgegebenen Ängsten und überholten Werten ihrer Mütter und Großmütter, ihrer Väter und Großväter.
Was uns im Weg steht, sind einerseits natürlich die tradierten Dos and Don'ts, die "Frau zu erfüllen hat", ob äußerlich, optisch oder moralisch, oft geprägt durch Religionen, aber natürlich auch Politik und Gesellschaft. Geschichtlich betrachtet ist es erst ein paar Wimpernschläge her, dass es überhaupt um freiwillige und gleichwertige weibliche Lust und Freude in der Sexualität gehen darf. Frau stellte ihren Körper zu Verfügung, falls sie nicht freiwillig wollte, gab es noch bis vor rund 30 Jahren innerhalb einer Ehe keine Vergewaltigung, die Frau "gehörte" dem Mann.
Immer noch sind in vielen Köpfen von Frauen und Männern heteronormative Bilder und Erwartungen von Sexualität, die sich hauptsächlich um schöne und willige Frauenkörper drehen, die sich um männliche Höhepunkte ranken. Da stehen Menschen, die sich der LGBTQI+-Szene zuordnen ganz woanders. Sexualität ist zu oft immer noch etwas, das "der Mann" von "der Frau" will, ja vielleicht fordert; oder Frau gesteht sich zu oft nicht zu, auch lustvoll und fordernd sein zu dürfen. Klar betrifft dies nicht alle, aber immer noch zu viele Frauen. Wie kommen wir raus aus der Spirale, "Sex liefern zu müssen"?
Was Frau wirklich will, ist im Grunde einfach
Frau will, wenn es um ihre Sexualität geht, persönlich gesehen, gespürt, wahrgenommen und gemeint sein. Als Frau. Punkt. Da geht es nicht um ihre Rollen als Mutter, Mitbewohnerin, Alltagsheldin oder toughe Businessfrau. Sie möchte Gelegenheit, Raum und Zeit, selbst immer wieder in die freudige Lust zu kommen und Sex zu wollen. Sie möchte begehrtes Subjekt, also gleichwertiger Mensch sein, nicht ein Objekt der Begierde. Das ist die Baseline, die sich in der Arbeit mit jeder einzelnen Frau, natürlich mit jedem einzelnen Menschen zeigt. Von sexuellen Spielarten mal abgesehen.
Immer geht nicht, gar nicht
Raum, Zeit und Gelegenheit zu haben heißt nicht, dass jede Frau immer viel Zeit und Zärtlichkeit braucht, wo bliebe dann der oft geliebte rasche, spontane Quickie, der Kick des Moments? Auch Frau möchte Überraschungen und erotische Spiele, Sinnlichkeit und Intensität, die den Kopf leer werden lässt und Hingabe ermöglicht. Wirklich aufeinander im Moment einzugehen und zu spüren, was jetzt an Bedürfnissen da ist, ist übrigens auch Frage der Übung, der Haltung und manchmal im ersten Schritt ungewohnt, vor allem wenn Sex rasche Entspannung bringen soll. "Immer" ist sowieso eines der Unwörter beim Sex. Wenn irgendetwas "immer" sein soll, ist es nun mal bald eine Forderung und bestenfalls nur alltäglich.
Dürfen wir das überhaupt, fordern oder die Kontrolle verlieren?
Und ja, wir Frauen sind uns da auch selbst oft noch im Weg. Wir wurden im Grunde viel zu wenig bis gar nicht ermutigt, uns als lustvolle, sexuell erwachsene Frau selbst wahrzunehmen, geschweige denn zu zeigen. Dürfen wir uns hingeben, den Kopf ausschalten, einfach so? Ganz im Gegenteil, viele Frauen haben Regeln und Bewertungen übergestülpt bekommen, die eher Angst vor Sex als Lust drauf machen.
Ist das einer der Gründe, warum viele immer noch "gut sein wollen im Bett", anstatt Sexualität genießen zu können, die selbst wirklich guttut? Zu oft höre ich: "Ich lasse ihn mal machen, dann ist wieder ein paar Tage Ruhe." Zu oft höre ich Selbstzweifel wie: "Bin ich überhaupt genug?" Oder: "Ich muss mich anstrengen!"
Frau, gönne dir dich selbst mit allen Sinnen und zeige, ja, nimm dir, was dir Lust und Erregung beschert, was du brauchst, selbstverständlich auch hier nie auf Kosten anderer. Auch wenn es erst einmal ein Stopp braucht oder eine Sexpause, um überhaupt mal wieder in gesunde Lust zu kommen. Ja, dann rumpelt es eben mal im Bett, dann funktioniert es eben nicht wie immer, dann können wir auf Sätze wie: "Was hast du auf einmal, war doch eh immer schön!?" selbstbewusst sagen: "Ja, aber jetzt möchte ich mich, dich und uns anders erleben!"
Warum alle gewinnen, wenn Frau sich zeigt
Sehnen wir uns nicht alle nach Intimität, Intensität und Nähe? Danach, berührt und erregt zu werden auf allen Ebenen? Nach echter Ekstase und Intensität, je nach Lust und Bedarf? Viele Frauen wünschen sich einen sicheren Rahmen, in dem es nicht um Performance oder Erfüllung von Erwartungen geht – ob beim ersten Sex mit einem neuen Partner oder in einer langjährigen Beziehung.
Es kann vielschichtig hingebungs- und kraftvoll sein, die eigenen lustvollen Bedürfnisse selbst-bewusst und im passenden Tempo immer wieder ganz im jetzt zu erspüren, zu zeigen. Gönnen wir uns selbst und uns im Miteinander diesen Weg zu mehr selbst-verständlichem Erleben und Genuss? (Nicole Siller, 11.6.2022)