Anfang Jänner hätte Botschafter Alexander Kmentt, im österreichischen Außenministerium für Abrüstungs- und Rüstungskontrollfragen verantwortlich, das erste Treffen der Vertragsstaaten zum Atomwaffenverbotsvertrag leiten sollen – ein Jahr nachdem sich ein großer Teil der Staatengemeinschaft erstmals dazu entschloss, die mörderischste aller Massenvernichtungswaffen ganz grundsätzlich völkerrechtlich zu verbieten. Aufgrund der Corona-Situation wurde das Treffen zweimal verschoben, in der kommenden Woche ist es nun so weit. Der russische Angriffskrieg in der Ukraine hat die Vorzeichen des Treffens jedoch komplett auf den Kopf gestellt. Anstatt global über Abrüstung zu diskutieren, erfreuen sich Atomwaffen bei einer immer größeren Zahl an Staaten großer Beliebtheit.

Sogar das lange pazifistische Japan, bisher einziges Opfer von Atomwaffen in einem bewaffneten Konflikt, überlegt die Stationierung von US-Sprengköpfen im eigenen Land. Davon unbeirrt sammelt der Verbotsvertrag weiterhin Ratifizierungen vor allem im Globalen Süden. Große Abwesende im Vertrag sind neben den Atommächten weiterhin aber auch jene Staaten, die unter dem Nato-Nuklearschirm stehen. Österreich hat den Vertrag ratifiziert. Alexander Kmentt glaubt dennoch an eine positive Entwicklung des Vertrags in den kommenden Jahren.

STANDARD: Wie liefen die Vorbereitungen für die Vertragsstaatenkonferenz?

Kmentt: Sie liefen sehr gut, natürlich auch mit etwas mehr Zeit wegen den Covid-bedingten Verschiebungen, aber den Vertragsstaaten ist es extrem wichtig, dass das Meeting eine klare Message aussendet, dass das ein ernstzunehmender neuer Vertrag ist, der das Nuklearwaffenthema vor allem auch aus Perspektive der humanitären Auswirkungen und Risiken beleuchtet.

STANDARD: Was ist Ihre Bilanz nach eineinhalb Jahren Verbotsvertrag? Es sind einige Ratifizierungen dazugekommen, irgendwann sollten aber alle dabei sein.

Kmentt: Ich würde sagen, es ist ein unglaublicher Erfolg, wie viele Staaten den Verbotsvertrag schon ratifiziert haben angesichts des großen Drucks, der von einigen Nuklearwaffenstaaten ausgeübt wird, nicht dem Vertrag beizutreten. Der Vertrag fordert die sogenannte nukleare Ordnung heraus, weil er eben auf dem Argument aufbaut, dass Nuklearwaffen letztlich kein verantwortungsvolles Mittel sind, um die internationale Sicherheit zu garantieren. Und deswegen gibt es natürlich auch sehr viel Druck gegen Staaten, beizutreten. Es haben aber 86 Staaten unterschrieben, mehr als 60 haben ihn bereits ratifiziert, 121 haben den Vertrag damals mitverhandelt, 138 Staaten stimmten in der Generalversammlung für die Resolution zum Vertrag. Und 2015 hatten wir ein gemeinsames Statement über die humanitären Auswirkungen von Nuklearwaffen, das von 159 Staaten mitunterzeichnet wurde. Das zeigt das Potenzial dieses Vertrags.

STANDARD: Der "Economist" schreibt, dass das nukleare Tabu bröckelt. In den vergangenen Jahren erlebten wir immer wieder Androhungen des Einsatzes von Nuklearwaffen, was lange Zeit nicht mehr der Fall war. Nicht nur Wladimir Putin, zuvor zündelten auch schon Donald Trump, Kim Jong-un oder Narendra Modi. Zynisch gefragt: Hilft das dem Gedanken des Verbotsvertrags? Also solange gedroht wird, es aber nicht knallt, und um Staaten zu überzeugen, dass dieser Vertrag wichtig ist?

Kmentt: Die emotionale Reaktion in Europa in Richtung mehr nuklearer Abschreckung ist ein fataler Trugschluss. Denken wir nur daran, dass wir heute viel mehr über die katastrophalen Auswirkungen eines auch nur limitierten Nuklearkriegs und seiner letztlich nicht kontrollierbaren Risiken wissen. Die derzeitige dramatische Situation hilft dem Verbotsvertrag deshalb vielleicht insofern, weil er die Argumente, auf denen der Vertrag aufbaut, sichtbar macht. Auf die Stabilität der nuklearen Abschreckung zu vertrauen ist eine Hochrisikowette mit dem Überleben der Menschheit, während der Verbotsvertrag auf Fakten betreffend die globalen Auswirkungen und Risiken dieser Waffen beruht.

Auch Russland hat zuletzt atomar bestückbare Interkontinentalraketen getestet.
Foto: Russian Defense Ministry Press Service via AP

STANDARD: Mit Deutschland und Norwegen nehmen zwei Nato-Staaten als Beobachter an der Konferenz teil. In Deutschland lagern US-Atomwaffen. Beide stehen unter dem nuklearen Schirm. Norwegen war der erste Ausrichter der Konferenz über die humanitären Folgen von Atomwaffen. Was erwarten Sie sich von ihrer Teilnahme? (Anm.: Nach dem Interview wurde klar, dass auch die Nato-Staaten Belgien, die Niederlande, die Bald-Nato-Staaten Finnland und Schweden sowie Australien und die Schweiz als Beobachter teilnehmen werden.)

Kmentt: Allzu viel darf man sich vermutlich nicht erwarten, mit ihrer Beobachterrolle setzen sie aber ein Zeichen, sich konstruktiv an der Diskussion beteiligen zu wollen. Das ist sehr zu begrüßen. Eine Annäherung an den Vertrag per se bedeutet das aber nicht, das haben beide Staaten klargestellt. Nichtsdestotrotz, in meinen Gesprächen auch mit Deutschland und Norwegen ist klar zu erkennen, dass das Ziel einer nuklearwaffenfreien Welt unbedingt aufrechterhalten werden muss. Deswegen ist es wichtig und richtig, sich an einem internationalen Diskurs zu beteiligen, der sich genau damit beschäftigt.

STANDARD: Ganz prinzipiell: Kann ein Nato-Staat dem Verbotsvertrag beitreten, oder geht sich das einfach nicht aus?

Kmentt: Das ist natürlich eine rechtliche und politische Frage, die von Nato-Staaten zu beantworten ist. Der Verbotsantrag ist per se ist nicht inkompatibel mit der Teilnahme an einem Militärbündnis. Es gibt beispielsweise eine rechtliche Studie aus Norwegen, die klar ausführt, dass ein Beitritt zum Vertrag auch mit der Nato-Mitgliedschaft vereinbar wäre, aber gewisse nukleare Aktivitäten, wie etwa die Stationierung von Nuklearwaffen eines Nuklearwaffenstaates, dann aber zum Beispiel klar nicht länger möglich wären.

STANDARD: Wer internationale Medien zum Thema Abrüstung konsumiert, stößt vermutlich auf New Start, den letzten großen bilateralen Rüstungskontrollvertrag zwischen Russland und den USA, vielleicht auch noch auf den Nichtweiterverbreitungsvertrag, selten aber auf den Verbotsvertrag. Spielt da auch der Druck der Atommächte USA, Frankreich und Großbritannien eine Rolle?

Kmentt: Ich würde sagen, ja. Diese Medien kommen ja oft direkt aus den Staaten der Atommächte. Der Nuklearwaffenverbotsvertrag repräsentiert aber die Position der großen Mehrheit von Staaten, die keine Atomwaffen haben und auch nicht auf Atomwaffen setzen wollen. Diese Position wird nach wie vor von vielen Medien ignoriert. Aber genau darum geht es ja, diesen neuen Diskurs immer stärker in den Vordergrund zu bringen.

Foto: Der Standard /Fatih Aydogdu

STANDARD: Um die nukleare Proliferation ist es aktuell eher schlecht bestellt. Der Iran soll schon bald ausreichend angereichertes Uran besitzen, um theoretisch eine Waffe zu bauen, auch wenn zahlreiche andere Teile bis zur Bombe fehlen. Südkorea und Japan überlegen die Stationierung von Atomwaffen. Saudi-Arabien soll auch nicht ganz abgeneigt sein. Was ist da los?

Kmentt: Das sind natürlich sehr besorgniserregende Entwicklungen. Aber es ist ganz wichtig zu begreifen, dass nukleare Abrüstung und die Verbreitung von Atomwaffen zwei Seiten der gleichen Medaille sind. Wie will man einen Staat, der mit dem Gedanken spielt, Atomwaffen zu entwickeln, tatsächlich dazu bringen, das nicht zu tun, wenn eine Vielzahl von Staaten genau auf diese Waffen setzen und sie als unverzichtbar darstellen? Es ist letztlich nicht möglich, langfristig die Verbreitung von Atomwaffen aufzuhalten, wenn es nicht eine glaubwürdige Abkehr von Atomwaffen gibt. Das ist genau diese Weggabelung, vor der wir jetzt stehen. Es geht entweder in ein massives nukleares Wettrüsten mit womöglich noch viel mehr Akteuren. Oder es gelingt eine Trendumkehr beruhend auf den Fakten zu den humanitären Auswirkungen und Risiken, über die man heute Bescheid weiß. Es ist extrem wichtig, die Frage zu stellen, ob wir uns vorstellen können, dass eine Welt mit wesentlich mehr Fokus auf Atomwaffen tatsächlich eine sicherere ist, oder ob es nicht dringend notwendig ist, eine Abkehr von diesem Paradigma zu finden. Und genau dafür liefert der Verbotsvertrag Argumente.

STANDARD: In China wurden zuletzt hunderte Raketensilos in der Wüste Gobi bekannt. Alle Rüstungsexperten schließen daraus, dass China massiv aufrüstet. Was, wenn "dieses Gleichgewicht des Schreckens", das über 75 Jahre lang Atomkriege verhindert haben soll, plötzlich einen dritten Player ausbalancieren muss?

Kmentt: Das bedeutet eine exponentielle Steigerung der nuklearen Risiken. Russland und den USA sind die zwei Staaten, die zusammen über 90 Prozent der Nuklearwaffen besitzen. Wir haben aber sieben weitere Staaten, die alle auf nukleare Abschreckung setzen. Gleichzeitig sind aber alle diese Strukturen auf verschiedene Arten verwundbar, sei es durch Cyberattacken oder menschliche Irrtümer und Fehlkalkulationen. Wir haben Systeme, die alle anfällig sind für technische Mängel. Die neun Staaten stehen alle in multiplen nuklearen Abschreckungsbeziehungen zueinander. Je mehr Akteure da dazukommen, je mehr Waffen dazukommen, desto höher sind die Risiken. Bis halt einmal etwas passiert. Und genau das gilt es zu verhindern. Mit allem, was wir über die Auswirkungen wissen, dürfen wir das nicht erlauben.

Botschafter Kmentt organisierte am Montag eine zusätzliche Konferenz, die die Folgen von Nuklearwaffen für Atomwaffen beleuchtete.
Foto: APA/AFP/JOE KLAMAR

STANDARD: Waren Sie glücklich über das Video des Außenministeriums, das vergangenes Jahr den Atombombenabwurf über Wien simuliert hat?

Kmentt: Der Anlass für das Video war das Inkrafttreten des Verbotsvertrags. Es ging natürlich nicht darum, irgendjemanden in Panik zu versetzen, sondern darauf hinzuweisen, dass es diese Bedrohung tatsächlich noch gibt und Städte Ziele dieser Waffen sind. Und dass Österreich zusammen mit anderen Staaten hier versucht, dagegen etwas zu tun, damit genau so etwas nicht passiert. Die Diskussion wurde dann etwas aus diesem Kontext herausgenommen. Leider sehen wir etwas mehr als ein Jahr später, dass die Bedrohung tatsächlich viel größer ist, als es den meisten Leuten bewusst war – vielleicht auch vielen, die das Video damals kritisiert haben.

STANDARD: Wie viele Staaten werden den Vertrag bis zum nächsten Vertragsstaatenmeeting in zwei Jahren ratifiziert haben?

Kmentt: Ich denke schon, dass es weiter steigenden Zuspruch für den Vertrag geben wird, wahrscheinlich sogar dynamisch steigend. Im Sommer gibt es ja auch die Überprüfungskonferenz des Atomwaffensperrvertrags, die unter einem sehr schlechten Stern steht. Es zeigt sich immer klarer, dass die Abrüstungszusagen, die es ja eigentlich gibt, nach wie vor in weiter Ferne sind und nicht umgesetzt werden. Für alle Staaten, die nukleare Abrüstung wirklich unterstützen wollen, für alle Staaten, die überzeugt sind, dass man dem gefährlichen Trend entgegentreten muss, gibt es den Atomwaffenverbotsvertrag als konkretes Mittel. Und ich gehe davon aus, dass es signifikanten Zuspruch in diese Richtung geben wird. (Fabian Sommavilla, 21.6.2022)

Zur Person: Botschafter Alexander Kmentt leitet die Abteilung II.10 im Außenministerium, die sich mit Abrüstung, Rüstungskontrolle und Non-Proliferation beschäftigt. Der Jurist, der Internationale Beziehungen in Cambridge studierte, gilt als einer der Architekten der Initiative, die die humanitären Auswirkungen von Atomwaffeneinsätzen in den Mittelpunkt stellt.