Während den Corona-Lockdowns wirkten sonst belebte Straßen wie ausgestorben. Ein Vorbote auf die ortlose Gesellschaft?

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Vor wenigen Monaten kam es im Online-Spiel "Decentraland" zu einer Demonstration. "Decentraland" ist eine dieser virtuellen Welten, wo man mit Avataren herumläuft und große Marken ihre Dépendancen eröffnet haben. Vor dem Flagship Store von Samsung versammelten sich Avatare in roten T-Shirts und hielten Schilder mit der Aufschrift "I have a Scream" in die Höhe.

Die Aktion, die von einer Non-Profit-Organisation organisiert worden war, richtete sich gegen den Kommerz im Metaverse – und zeigt einmal mehr als Mobilisierungspotenzial in digitalen Welten. Man muss nicht mehr in einen Zug steigen, um zu einer Demo fahren, man braucht auch keine Genehmigung von einer Behörde – es reicht, sich auf einer Plattform anzumelden und zur rechten Zeit einzuloggen. Selten war Politik so niedrigschwellig.

Das Metaverse, von dem jetzt alle fiebrig reden, könnte nicht nur die politische Willensbildung, sondern auch die Gesellschaft fundamental verändern. Wer arbeitet noch als Pfleger oder Erzieherin, wenn sich in Online-Spielen mehr Geld verdienen lässt? Wer braucht noch eine teure Wohnung in der Stadt, wenn man auch auf dem Land arbeiten kann? Wer sitzt noch stundenlang auf unbequemen Zugsitzen mit schlechtem Netzempfang, wenn man die Kollegen in der virtuellen Realität treffen kann?

Internet als Ersatzstadt

Der Schriftsteller Willam Knoke entwickelte in seinem 1996 erschienenen Buch "Kühne neue Welt" die Utopie einer "ortlosen Gesellschaft" (placeless society), einer Gesellschaft, in der Orte keine Rolle mehr spielen. Technologien wie Hyperschallflugzeuge oder das Internet würden die Welt zu einem elektronischen Dorf machen, wo es völlig egal ist, ob man in Mumbai oder München sitzt. Ein Versicherungsvertreter, so Knokes Vision, könne von zu Hause aus arbeiten, eine Computerfirma ihre Software in einer Kleinstadt in Utah schreiben, Unternehmen Sitzungen in Telepräsenz abhalten.

Bis vor drei Jahren klang diese Utopie recht papieren. Doch dann kam Corona – und alles wurde anders. Was sonst auf Straßen, Schulhöfen oder öffentlichen Plätzen stattfand, verlagerte sich ins Digitale. Wo der öffentliche Raum während der Lockdowns zur Sperrzone wurde, wurde das Internet zur Ersatzstadt. Im virtuellen Raum gibt es weder Ausgangssperren noch Kontaktbeschränkungen. Klar, auch vor Corona konnte man schon Videocalls zwischen London und New York durchführen. Doch die Business-Elite flog weiter von einer Konferenz zur nächsten.

Die Pandemie unterbrach diese Routinen abrupt – und zwang, festgefahrene Handlungsmuster zu hinterfragen. Warum setzt sich jeden Tag eine Karawane von Menschen in Bewegung? Muss das alles sein? Das Gedränge in der U-Bahn? Der Lärm, Smog und Dichtestress in der Stadt? Könnte man Arbeit räumlich nicht anders organisieren?

Gefühlte tausend Stunden Zoom-Calls und Netflix später ist mancher froh, in das zurückzukehren, was gerne als "Normalität" bezeichnet wird: volle Fußballstadien, Theater, Volksfeste. Doch Corona hat auch in urbanen Räumen Spuren hinterlassen. Geschäfte und Restaurants schließen, Innenstädte veröden, Menschen ziehen weg.

In den USA zeigt sich diese Entwicklung wie unter einem Brennglas. Allein im Jahr 2020 haben nach Angaben der US-Post 320.000 Bewohner New York City verlassen. Auch in anderen US-Metropolen wie Los Angeles oder Chicago lässt sich dieser Exodus beobachten. Die digitalen Nomaden, die mit ihrem Laptop von überall auf der Welt arbeiten können, ziehen aufs Land oder in eine der sogenannten "Zoom towns", die neue Bewohner mit Prämien anlocken. Das Leben dort ist billiger, die Luft besser.

Städteforscher sprechen vom Donut-Effekt: Die suburbanen Siedlungen umschließen die Zentren wie einen Kringel. Dieser Effekt wurde durch Corona verstärkt. Und könnte bleiben. Viele Menschen, die nicht müssen, werden nicht in die Städte zurückkehren. Zurück bleiben die, die nicht das Privileg haben, von zu Hause aus arbeiten zu können: Pflegekräfte, Handwerker, Kellner. Doch die werden knapp und durch Automaten ersetzt.

Nur noch Kulisse?

Roboter liefern Essen aus, servieren Getränke oder patrouillieren in Shopping-Malls. Und wenn der Roboter nicht zuverlässig genug oder zu teuer ist, springt der menschliche Automat in die Bresche. So schalten sich in einer kanadischen Supermarktkette beim Checkout "virtuelle" Kassierer aus dem 6000 Kilometer entfernten Nicaragua über den Bildschirm zu – für 3,75 kanadische Dollar die Stunde. Willkommen im globalen elektronischen Dorf.

Das Beispiel mag auf den ersten Blick kurios erscheinen. Es macht aber deutlich, dass sich Distanzen durch digitale Technologien relativieren. Auch der im Moskauer Exil lebende Whistleblower Edward Snowden hielt mit einem Telepräsenzroboter Vorträge an amerikanischen Unis, obwohl er tausende Kilometer entfernt war.

Jahrhundertelang waren Städte das Zentrum von Arbeit, Handel und Bildung. Doch jetzt, wo in virtuellen Welten Konzerte, Kunstauktionen und sogar Fashion Weeks stattfinden, bröckelt dieses Monopol. Die neuen Städte entstehen gerade in Metaversen wie "Roblox" oder "The Sandbox": Dort verbringen Millionen Menschen ihre Freizeit. Mikrokosmen wie "Livetopia" (Roblox) sind belebter als manches Ausgehviertel. Wozu braucht es dann noch Städte? Sind Städte bloß noch die Kulisse für Insta-Storys?

In der Corona-Pandemie hat sich gezeigt, dass der private Raum Funktionen des urbanen Raums integriert und zum Teil auch absorbiert hat: Die Wohnung war plötzlich Büro, Restaurant, Kino, Fitnessstudio und Klassenzimmer in einem. Zumindest für diejenigen Familien, die entsprechend Platz in ihren eigenen vier Wänden hatten.

Seoul baut virtuelle Parallelstadt

Der Lockdown war eines der größten sozialen Experimente der modernen Gesellschaft – und gibt uns eine leise Vorahnung, wie eine ortlose Gesellschaft funktionieren könnte. Künftig könnten nicht nur telemedizinische Sprechstunden oder die elektronische Fernauslesung von Strom- und Wasserzählern zur Normalität werden, sondern auch die digitale Fernwartung von Maschinen: Mit einer Datenbrille ausgestattet geht man in den Heizkeller und folgt den Instruktionen des Monteurs, der sich per Kamera einklinkt. Es braucht keine teure Anfahrt mehr – der Techniker kommt über die Datenautobahn.

Der Harvard-Ökonom Ed Glaeser schreibt in seinem Buch "Triumph of the City", dass Städte so etwas wie soziale Suchmaschinen seien, die ähnlich gepolte Menschen zusammenbringen. Diese "Software" ist sowohl mit dem physischen als auch mit dem virtuellen Raum kompatibel. So will die südkoreanische Hauptstadt Seoul bis 2026 ein eigenes Paralleluniversum bauen: In "Metaverse Seoul" sollen Bürger digitale Behördengänge durchführen, Bustouren buchen und historische Stätten besuchen können. Die Idee der Stadt – der freie Fluss von Waren, Personen und Informationen – wäre nicht mehr auf die physischen Stadtgrenzen beschränkt. Aber ob man in "Metaverse Seoul" auch demonstrieren darf? (Adrian Lobe, 11.6.2022)