Mittendrin im Wahlkampfgetümmel zeigt sich Jean-Luc Mélenchon mit erhobener Faust (beige Jacke).

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In La Courneuve klopfen Belaid Ait-Meziani (links) und Azzédine Taïbi für ihn an Haustüren.

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"Bonjour, wie geht es Ihnen?", sagt Azzédine Taïbi und setzt sein gewinnendstes Lächeln auf, als ein Familienvater im Unterhemd mit zwei Kleinkindern am Hals die Wohnungstür in der Siedlung Valmy öffnet. "Ich kandidiere bei den kommenden Parlamentswahlen, von denen Sie sicher gehört haben." Der misstrauisch äugende Mann weiß allerdings von nichts. Aber als der Kandidat anfügt, er kandidiere für Jean-Luc Mélenchon, hellt sich sein Gesicht auf: "Bei den Präsidentschaftswahlen im April habe ich für ihn gestimmt."

Der 57-jährige Taïbi freut sich seinerseits und hält dem Mann ein paar Flugblätter hin, auf dem er selbst neben Mélenchon abgebildet ist. "Geben Sie das weiter an Ihre Familie und Freunde", sagt Taïbi. Dann, mit Nachdruck: "Ich zähle auf Sie!"

Hochburg von Mélenchon

Hier, in La Courneuve, sind die Mélenchon-Anhänger unter sich. Von den 45.000 Einwohnern votierten im ersten Präsidentschaftswahlgang nur 14,7 Prozent für Präsident Macron, 9,4 Prozent für die Rechte Marine Le Pen. 64 Prozent stimmten für Mélenchon, den linkspopulistischen Kandidaten von "La France insoumise" ("Unbeugsames Frankreich").

Warum sind hier in der bettelarmen Vorstadt – 44 Prozent leben unter der Armutsgrenze – alle für Mélenchon? "Weil er den Mindestlohn auf 1500 Euro anheben will", sagt der Mann, der seine zwei Kinder nun auf den Boden gestellt hat, während Taïbi bereits ein Stockwerk tiefer an die Türen klingelt. "Zudem will er das Pensionsalter auf 60 Jahre senken, nicht wie Macron, der es erhöhen will."

Dann streicht sich der Mann, der seinen Vornamen nicht nennen will, über den Bart. "Und Mélenchon hält uns nicht für Deppen", sagt er nach kurzer Überlegung. "Er ist der Einzige, der uns versteht, der auf unserer Seite steht."

Zauberwort "Kreolisierung"

Gemeint ist: auf der Seite der Zugewanderten – der Maghrebiner, Afrikaner, Moslems von La Courneuve. Sie, die meist gar nicht zur Wahl gingen, sind nun Feuer und Flamme für Mélenchon. Vor allem, seit er ein neues Wort in den Wahlkampf brachte – die "Kreolisierung". Gemeint ist ein Kulturgemisch wie die kreolische Musik (Salsa, Merengue) oder Küche.

Mélenchon benutzte den Begriff der Kreolisierung, der auf den Sklavennachfahren Edouard Glissant zurückgeht, erstmals im September 2021 in einem Streitgespräch mit dem rechten Präsidentschaftskandidaten Éric Zemmour. Als dieser die Assimilierung der Migranten verlangte, konterte Mélenchon, ihm sei eine "kreolisierte Gesellschaft" lieber.

Medikamente in die Ukraine geliefert

Das Wort schlug in der Banlieue ein. In La Courneuve gründete Taïbis rechte Hand, Belaid Ait-Meziani, die erste Aktionsgruppe "Ma France créole" – "mein kreolisches Frankreich". Mit Betonung auf Aktion: "Wir helfen älteren Arbeitern der ersten Einwanderergeneration, Behördendokumente auszufüllen; und zuletzt haben wir Medikamente in die Ukraine geliefert", erzählt der 59-jährige Kabyle.

Dass er aus Algerien stammt, findet er unwichtig: Bei der von Mélenchon propagierten Kreolisierung gehe es eben nicht um die Herkunft. "Bin ich Moslem?", fragt Ait-Meziani, während er Flugblätter in die Briefkästen steckt. "Nein, ich bin ein Bürger. Sind die Besucher der Synagoge dort drüben Juden? Nein, es sind Bürger." Nicht alle sehen das so: Mitte Mai sprayten Unbekannte in La Courneuve antisemitische Graffiti an die Wände.

Sorgen eines Unternehmers

Ait-Meziani seufzt nur. Er hat andere Sorgen. Sein Bauunternehmen kommt beim Bau des nahen Schwimmbeckens für die Olympischen Sommerspiele von Paris 2024 nicht zum Zug. "Wieder einmal berücksichtigte die Regierung keine Banlieue-Firmen", klagt der Kleinunternehmer. Immerhin werden die letzten zwölfstöckigen Wohntürme der berüchtigten Siedlung "Cité des 4000" geschleift. Sie sollen die schöne Kulisse der Pariser Olympiade nicht stören.

Die einhellige Banlieue-Solidarität hinter Mélenchon wirkt zum Teil auch etwas aufgesetzt. Die Linke geht nur dem Schein nach geeint als "Volksunion" in die Parlamentswahl. Dahinter wogen lokale Streitigkeiten. "Ihr Hintergrund ist oft lokalpolitischer oder gar religiöser Klientelismus", erklärt die Politologin Céline Pina.

Mehrere Kandidaten

In La Courneuve setzte die Mélenchon-Partei Taïbi eine Kandidatin namens Soumya Bourouaha vor die Nase. Beide berufen sich nun auf Mélenchon. Das schmälert natürlich ihre Siegchancen. Die "Volksunion" wird es wegen solcher Wahlkreisfehden schwer haben, die Mehrheit in der Nationalversammlung zu erringen. Und darum geht es letztlich bei den kommenden Parlamentswahlen.

Erstmals seit langem treten die Linke und die Grünen wieder geschlossen an, und wenn sie die Parlamentsmehrheit erringen, können sie Präsident Emmanuel Macron in eine "Cohabitation" mit einem linken Premierminister wie Mélenchon zwingen.

Neue Form des Gürtels

Die Umfragen zeichnen derzeit kein klares Gesamtbild der 577 Wahlkreise. Etwas ist aber bereits sicher: Der "rote Banlieue-Gürtel", der sich im 20. Jahrhundert um die Großstädte von Paris, Lyon oder Marseille gezogen hatte, bevor die Linke fast überall einbrach, nimmt langsam wieder Form an. "Es ist eine neue Form – politisierter, selbstbewusster", glaubt Ait-Meziani. "Eben auch kreolisierter." (Stefan Brändle aus La Courneuve, 10.6.2022)