Als Chef der Europäischen Zentralbank (EZB) hat Draghi sein Land vor dem finanziellen Kollaps bewahrt, und seit seiner Ernennung zum italienischen Premier im Februar 2021 peitscht er Reform um Reform durchs Parlament. Doch an einer Aufgabe droht nun selbst "Super-Mario" zu scheitern: Die von ihm geplanten Maßnahmen gegen die grassierende Steuerhinterziehung sind im Parlament einem Sperrfeuer ausgesetzt; die von der Regierung schon im vergangenen Herbst beschlossene Steuerreform ist nun schon seit Monaten blockiert. Bis Ende Juni hat Draghi noch Zeit, die Vorlage unter Dach und Fach zu bringen: So ist es zwischen Italien und der EU vereinbart worden. Gelingt es nicht, sind die Milliarden aus dem EU-Wiederaufbaufonds gefährdet.

Der italienischen Finanzpolizei geht die Arbeit praktisch nie aus. Steuern zu zahlen gehört in Italien nämlich nicht zum Dolce Vita.
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Ein entschiedenes Vorgehen gegen die Steuerhinterziehung schiene durchaus angebracht: Mehr als die Hälfte der Italiener deklarierte im vergangenen Jahr ein Bruttoeinkommen von weniger als 15.000 Euro; zehn Millionen Italiener zahlen überhaupt keine Steuern. Rund 90 Prozent der Einkommenssteuer werden von Angestellten und Rentnern bezahlt, also von jenen, die beim Ausfüllen der Steuererklärung nicht schummeln können. Und gerade einmal 35.000 Steuerpflichtige geben an, mehr als 300.000 Euro brutto pro Jahr zu verdienen – und das "im Land der Ferraris und der Villen am Meer", wie der Corriere della Sera unlängst sarkastisch anmerkte. Insgesamt gehen dem Fiskus auf diese Weise jährlich immerhin rund satte 100 Milliarden Euro an Steuereinnahmen verloren.

Mangelnde Zahlungsmoral

Aber nicht nur beim wahrheitsgemäßen Ausfüllen der Steuererklärung hapert es – ebenso schlecht ist es dazu noch um die Zahlungsmoral bei der Begleichung der Steuerrechnungen bestellt, wie Ernesto Maria Ruffini, Direktor der italienischen Steuerverwaltung, letzte Woche betrübt darlegte. "19 Millionen Steuerpflichtige – also fast die Hälfte – sind mit den Zahlungen im Verzug, und das oft seit vielen Jahren", betonte Ruffini.

Insgesamt warten seine Mitarbeiter auf die Bezahlung von sage und schreibe 150 Millionen Rechnungen, also etwa acht pro säumigem Steuerzahler. Der Berg der Steuerausstände hat sich laut Ruffini in den vergangenen zwanzig Jahren auf einen Gesamtbetrag von sage und schreibe 1100 Milliarden Euro aufgetürmt.

Steueramnestie

Die schwach ausgeprägte Steuermoral ist in Italien politisch bisher nie so recht ernsthaft angegangen worden – ganz im Gegenteil: Mit verlässlich wiederkehrenden Steueramnestien hat der Staat die Schummler geradezu darauf konditioniert, dass sie nur ein paar Jahre warten müssen, bis sich das Problem mit einem kräftigen Rabatt und Straffreiheit ganz von selbst erledigt. Die erste Steueramnestie hatte schon Kaiser Hadrian erlassen; 2000 Jahre später erinnerten sich Ex-Regierungschef Bettino Craxi und vor allem der Skandalpremier Silvio Berlusconi – notabene ein rechtskräftig verurteilter Steuerhinterzieher – an die ungemein populäre Maßnahme.

Ob es Mario Draghi bis Ende Juni doch noch gelingen wird, das Ruder herumzureißen, wird sich weisen.
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In den letzten Jahren konnten aber auch die Sozialdemokraten Matteo Renzi und sein Nachfolger Paolo Gentiloni der Versuchung nicht widerstehen und haben Rabatte auf die nicht bezahlten Rechnungen gewährt. In der laufenden Legislatur doppelte Giuseppe Conte, als er mit der Lega von Matteo Salvini regierte, sogar noch nach. "Wir befinden uns seit sechs Jahren in einer permanenten Steueramnestie", resümiert der Corriere della Sera.

Ob es Mario Draghi nun bis Ende Juni doch noch gelingen wird, das Ruder herumzureißen, wird sich weisen müssen: Die Parteien befinden sich im Hinblick auf die Parlamentswahlen im nächsten Frühling bereits im Wahlkampfmodus, und vor allem die beiden rechten Koalitionspartner – die Lega von Salvini und die Forza Italia von Berlusconi – haben wenig Lust, ihre Wähler mit harten Maßnahmen gegen die Steuerhinterziehung zu vergraulen.

Der Lega-Chef fordert denn auch bereits eine neue, weitgehende Amnestie für die säumigen Steuerpflichtigen. "Ich habe von Draghi eine große Operation für einen Steuerfrieden verlangt", betonte Salvini unlängst nach einem Treffen mit dem Premier. "Steuerfrieden" bedeutet in Italien, dass man Steuern, die man dem Staat schuldet, nicht bezahlen muss.(Dominik Straub aus Rom, 10.6.2022)