Pascal Bruckner bietet ein detailreiches Bild der aktuellen französischen Kulturkämpfe.

Foto: AFP / Sameer Al-Doumy

Der französische Philosoph und Autor Pascal Bruckner, Jahrgang 1948, kann auf eine lange Reihe von Publikationen zurückblicken, in denen er auf Konfrontationskurs mit jeweils aktuellen Zeitgeistphänomenen ging.

Als einer der sogenannten Nouveaux Philosophes (u. a. Alain Finkielkraut, Bernard-Henri Lévy, André Glucksmann), die als dezidierte Linke in den 1970ern nach der Lektüre von Solschenizyns Archipel Gulag die schwarzen Seiten der Sowjetunion entdeckten, erhob Bruckner darüber hinaus Einspruch gegen das jubilatorische Selbstverständnis, mit dem die Protagonisten des Jahres 1968 ihre "sexuelle Revolution" hochleben ließen.

Pascal Bruckner, "Ein nahezu perfekter Täter. Die Konstruktion des weißen Sündenbocks". Aus dem Französischen von Mark Feldon. 26,80 Euro / 328 Seiten, Edition Tiamat, Berlin 2021
Cover: Edition Tiamat

Später galt ein Hauptstrang seiner Aktivitäten einer Kritik der Selbstgeißelungstendenzen, mit denen die großen westlichen Demokratien ihre historischen Kredite abzuzahlen versuchen. Dass jede von ihnen Schuld auf sich geladen hat, ist für Bruckner unbestritten – aber mit einer Politik der masochistisch überzogenen Selbstverkleinerung schütten sie das Kind mit dem Bade aus und gefährden die zivilisatorischen Fortschritte, für die der Westen eben auch steht. Just jene Länder, in denen Minderheiten weltweit die größten Schutz- und Freiheitsrechte genießen, werden am erbittertsten kritisiert und bekämpft: wahrlich kein kleines Paradoxon.

Feindfiguren

Dass das "woke" Denken mit seinen identitären Prämissen in Bruckner keinen Freund gefunden hat, nimmt angesichts dieser Vorgeschichte nicht wunder. In seiner jüngsten Buchpublikation setzt er sich mit einer emblematischen Feindfigur auseinander, die im Zentrum des Furors aller Sozialkrieger steht. Die Rede ist natürlich vom "weißen Mann", der sich, so der Titel von Bruckners Opus, als Ein nahezu perfekter Täter anbietet.

Warum er dies tut und wie der weiße Sündenbock "konstruiert" wird, schildert Bruckner anhand einer Fülle von Beispielen und mit Argumentationslinien, die die französische Herkunft ihres Autors verraten, aber grenzüberschreitende Gültigkeit beanspruchen können.

In Frankreich muss die Behauptung, Parameter wie Geschlecht oder Hautfarbe seien das Entscheidende im Zusammenleben der Menschen, besonders anstößig wirken, weil das republikanische Konzept eben darauf abzielt, "rassische" oder sexuelle Differenzen im Medium einer prinzipiellen politischen Gleichheit aufzuheben. Anders als in den USA, wo bei Volkszählungen die "Rasse" der jeweils Gezählten auf den Fragebögen aufscheint ("hispanic", "caucasian" etc.), wäre ein analoges Vorgehen in Frankreich verpönt.

Bruckner handelt seine Anliegen in zwei großen thematischen Blöcken ab. Der eine, zum Thema "Weiß", gilt den Exzessen eines "Antirassismus", der für Bruckner mit einer bizarren Pauschalverdrehung ans Werk geht und die Hautfarbe politisiert: "Man verbindet das genetische Erbe eines Individuums mit bestimmten moralischen und intellektuellen Qualitäten, verteilt Attribute der Minderwertigkeit und der Überlegenheit wie zu Kolonialzeiten. (…) Biologie soll das Wesen der Menschen bestimmen wie zur Zeit des ,wissenschaftlichen Rassismus‘ des 19. Jahrhunderts."

Pauschalverurteilungen

Block zwei betrifft die Pauschalverurteilung des Mannes: jeder ein Satan, ein potenzieller Vergewaltiger, der nach Kräften am Bestand einer angeblichen "Rape-Culture" arbeitet. Bruckner hat ein üppiges Florilegium einschlägiger Behauptungen zusammengestellt und zerpflückt sie mit argumentativer Eleganz.

So wirft er etwa dem französischen Ableger der woken Bewegung vor, ihr ideologisches Ideengut ohne große Denkanstrengungen im Copy-and-Paste-Verfahren aus den USA zu importieren, wenn etwa die Journalistin Iris Brey die Behauptung aufstellt, ein die Frau denaturierender "male gaze" sei nicht auf Amerika beschränkt, sondern ebenso gut in Frankreich zu Hause.

Dem gegenüber verteidigt Bruckner ein genuin französisches, egalitäres Konzept der Verführung, in dem "Autorität durch Überzeugungskraft, Zwang durch Zustimmung" ersetzt wird und beide Geschlechter "das Sakrament der Konversation" anerkennen müssen. Würde man diese Konzepte des Werbens und der Liebe über Bord werfen, so wäre die Einrichtung einer "Polizei der Begierde" nicht mehr weit.

Faire Kritik

Vor solchen Sarkasmen und gelegentlicher polemischer Schärfe scheut Bruckner nicht zurück, aber im Wesentlichen bleibt seine Kritik fair und an der Sache orientiert. Er anerkennt die guten Absichten der Sozialkämpfer, zeigt aber auch klar auf, wo sie auf ideologische Holzwege geraten.

Von einer romanisch-romantischen Verklärung französischer Verhältnisse ist Bruckner gelegentlich nicht frei, wenn er etwa vom Wokeismus genervte Amerikaner einlädt, gedankliches Asyl in Frankreich zu suchen.

Sein Buch bietet aber ein detailreiches Bild der aktuellen französischen Kulturkämpfe unter steter Berücksichtigung eines transatlantischen Einflusses, der inzwischen von Emmanuel Macron abwärts als eine ernsthafte Gefährdung des nationalen Politsystems gesehen wird.(Christoph Winder, ALBUM, 11.6.2022)