Die Figuren in dem Erzählband sind durch und durch Menschen.

Foto: APA / dpa / Patrick Pleul

Ein Mann sein – so lautet der klingende Titel des neuen, bei Rowohlt erschienenen Erzählbandes, der den knackigen Untertitel "Storys" trägt. Wer würde vermuten, dass hinter diesem Buch eine Frau steckt? Doch tatsächlich – und nicht irgendeine! Denn verfasst wurde diese Sammlung außerordentlicher und einfacher, witziger und trauriger Geschichten von niemand anderem als der 1974 in New York geborenen Autorin Nicole Krauss.

Dass diese ihren genauen Blick bereits an einigen Werken erproben konnte, wird klar, wenn man ihre Biografie betrachtet. Schon in ihrem Debütroman Kommt ein Mann ins Zimmer findet man diesen klaren und präzisen Ton wieder. Wen wundert es, dass ihr zweiter Roman Die Geschichte der Liebe zum Bestseller wurde? Mit Ein Mann sein legt Nicole Krauss nun ihren ersten Erzählband vor – und man darf gespannt sein, was folgen wird.

Der Inhalt der Texte ist facettenreich und reicht vom Alltäglichen bis ins Außergewöhnliche: Da erfährt die jugendliche Ich-Erzählerin der ersten Geschichte, was es bedeutet, wenn eine Internatskollegin eine Affäre mit einem sexy Banker hat und dann spurlos verschwindet, um später völlig zerkratzt wieder zurückzukehren; da wird von dem alternden Juden Brodmann erzählt, dessen Tochter sich kurzerhand einen homosexuellen Samenspender zulegt; da begegnet uns eine traurige Frau, die im Apartment ihres verstorbenen Vaters dessen Vergangenheit nachspürt und dort einem vollkommen fremden Mann begegnet.

Seelenverwandte

Nicole Krauss hat noch mehr auf Lager: So erzählt sie von der Obsession eines Protagonisten, den iranischen Schauspieler Homayoun Ershadi betreffend, und liefert dabei ein wunderbares Abbild der Tanz- und Talkshow-Welt der Gegenwart; außerdem reist sie mit uns durch eine besondere Familiengeschichte, in der der Vater Leonard bei den Ausgraben von Megiddo, einer Stadt in der Antike, beteiligt war; sie erzählt von Leben und Sterben der alternden Sophie, die aufgrund der gemeinsamen Pasolini-Liebe ihren "Seelenverwandten" Ezra heiratet, der sich als Reinfall entpuppt; sie berichtet aus der Perspektive eines Privatsekretärs des größten Landschaftsarchitekten Lateinamerikas und so weiter.

Lateinamerika – damit wären wir beim Stichwort! Denn nicht nur springen die Perspektiven der Texte zwischen Ich- und Er-Erzählern, die Autorin verfährt wahlweise auktorial oder personal – nein, auch die Orte ändern sich. Während in der ersten Geschichte von der Schweiz die Rede ist, verschlägt es uns bald schon nach Tel Aviv– aber auch, wie in der Erzählung Gebrochene Rippen, nach Berlin. Ja, Krauss schafft es spielend leicht, den Bogen vom alten Babylon bis ins Japan der Gegenwart zu spannen!

Nicole Krauss, "Ein Mann sein. Storys". Aus dem Englischen übersetzt von Grete Osterwald. 24,70 Euro / 256 Seiten. Rowohlt, Hamburg 2022
Cover: Rowohlt

Nicht nur was Erzähler und Orte betrifft, changieren hier Ton und Farbe: Auch die Länge der Geschichten fällt unterschiedlich aus. Während einige Texte sich über viele Seiten erstrecken, gibt es andere, die nur einen einzigen Moment festzuhalten und zu reflektieren versuchen: So die titelgebende Erzählung Ein Mann sein, die von einem Jungen am Steg berichtet, der sich nicht so recht traut, zu springen. Wird er es tun?

Gradlinigkeit

Um das herauszufinden, sollte man Nicole Krauss lesen. Und man sollte möglichst viel Krauss lesen, denn man wird immer neu überrascht. Der Stil, in dem Ein Mann sein gehalten ist, ist einfach, aber poetisch. Die Autorin besticht vor allem durch ihre herzerweichende Geradlinigkeit.

Ihre Figuren haben Ecken, Falten, Kanten und Kerben, es sind durch und durch Menschen. Vertrieben, auf der Suche, traurig und voller Fehler – aber auch mit Güte und Mitgefühl begabt. Ein Mann sein ist eine literarische Fundgrube.

Ob wir uns eher zu der jüdischen New Yorkerin hingezogen fühlen, deren deutscher Geliebter zugibt, dass er in anderen Zeiten vielleicht ein Nazi gewesen wäre, oder doch zu der jungen Frau, die in der Wohnung ihres verstorbenen Vaters einem Unbekannten begegnet, ob wir mit der älteren Dame lachen, deren verschwundener Ehemann nach Ewigkeiten wieder vor der Haustüre steht, oder ob wir lieber mit ihr weinen, sei dahingestellt. (Sophie Reyer, ALBUM, 11.6.2022)