Im Gastblog kritisiert Blogger Georg Scherer den Abriss vieler Häuser in Wien.

Das Haus in der Seidengasse 19 in Wien-Neubau war eine kleine Kuriosität. Eingeklemmt zwischen einem hohen Gründerzeithaus und einem massigen Wohnkomplex hatte sich hier ein seltener Überrest aus längst vergangenen Tagen erhalten. Die in zartes Rosa getauchte Fassade erweckte lange nicht den Anschein, als stünde ein Abriss vor der Tür. Doch kürzlich war es so weit. Obwohl gut erhalten und wohl vor nicht allzu langer Zeit renoviert, ist von dem Gebäude nur noch ein Schutthaufen übrig. Damit folgt es dem Schicksal vieler anderer Häuser, die in den letzten Jahren abgerissen wurden – trotz teils hohen historischen Werts.

Das Biedermeierhaus in der Seidengasse 19 wurde abgerissen.
Foto: Georg Scherer

Die vielen Facetten der Altstadterhaltung

Der Lauf der Zeit und die Veränderungen in der Gesellschaft sind in der Gestaltung von Straßen und Gebäuden mehr oder minder sichtbar gespeichert. Baulicher Wandel beziehungsweise Erhalt ist zugleich auch das Resultat von Gesetzen und übergeordneten Plänen. Insofern steht auch bei jedem einzelnen Gebäude irgendwann die Entscheidung an: Soll das bleiben, oder darf das weg? In den meisten Fällen – etwa bei Garagen, Wirtschaftsgebäuden und schlichten Wohnhäusern – wird die Antwort einfach sein. Die meisten Gebäude sind zumindest aus Sicht des Stadtbildes sicherlich nicht von allzu großer Bedeutung.

Im Rahmen vieler Abbrüche erfolgt auch ein "Austausch" der Bewohner – im Sinne der sozialen Schicht. In jedem Fall kommt es aber zu einer ästhetischen Veränderung und einem erheblichen Aufwand an Ressourcen. Gerade letzterer Aspekt rückt in Zeiten von Klimakrise und Rohstoffknappheit ins Blickfeld. "Jede Sanierung ist selbst dem Bau von Passivhäusern vorzuziehen", sagt die Vereinigung Architects for Future. Denn in Bezug auf Ressourcen muss die ganze Lebensdauer eines Gebäudes berücksichtigt werden. Als Positivbeispiel kann hier die Sanierung des Biedermeierhauses in der Bernardgasse 1 angeführt werden. Demnach wird es sinnvoll sein, dem Erhalt einen Vorrang zu geben und Abbrüche nur dann zuzulassen, wenn Häuser weder zweckmäßig noch bauhistorisch relevant sind. Doch die Wiener Politik kann sich nicht dazu durchringen, die Gesetze entsprechend anzupassen.

Abgerissen: Seidengasse 19 in Wien-Neubau.
Foto: Georg Scherer

Wie die Politik Abrisse vorantreibt

Das alte Haus in der Seidengasse war sicherlich nicht einmal das interessanteste Gebäude, das aus dem Stadtbild verschwunden ist. Im Windschatten dieser vergleichsweise überschaubaren Veränderung im Häuserbestand liegen Zerstörungen unschätzbaren Ausmaßes, die sich alleine in den letzten zwanzig Jahren angehäuft haben.

Über Erhalt beziehungsweise Nichterhalt von Gebäuden bestimmt maßgeblich der Bebauungsplan. Dieser Plan legt fest, was wo und wie hoch gebaut werden darf. Über Jahrzehnte hinweg haben Politik und Behörden per Bebauungsplan ganze Bezirksteile gleichsam zum Abbruch freigegeben. Was meist ohne größere öffentliche Aufmerksamkeit im Gemeinderat beschlossen wird, zeigt sich dann später in Form von Abbrüchen und extremen Ereignissen wie Demolierungsarbeiten an bewohnten Häusern, wie zum Beispiel dem Haus in der Radetzkystraße im 3. Bezirk.

Auf dem Grundstück in der Seidengasse 19 darf deutlich höher gebaut werden, als das Haus hoch war. So wurde das Gebäude unter wirtschaftlichen Druck gesetzt. Ein an das Haus angepasster Bebauungsplan hätte den Erhalt gefördert und zugleich dem Eigentümer maßvolle Ausbaumöglichkeiten (zum Beispiel hofseitig) geboten. Ein Kompromiss aus Bewahren und Weiterbauen wäre also möglich gewesen. Bereits 2011 hatte die Initiative Denkmalschutz eine Ortsbild-Schutzzone und eine niedrigere Bauklasse für das Haus gefordert. Den Rat beherzigte die damalige Regierung unter Bürgermeister Michael Häupl (SPÖ) und Planungsstadträtin Maria Vassilakou (Grüne) aber nicht. Auch in der Anfangszeit von Rot-Grün wurden die zulässigen Bauvolumina zum Teil erhöht und die Einrichtung von Schutzzonen vernachlässigt. Damit wurde das folgenschwere Erbe der roten Alleinregierung (2001–2010) und der SPÖ-ÖVP-Koalition (1996–2001) nahtlos fortgesetzt. Bis etwa Mitte der 2010er-Jahre wurden laufend abrissfördernde Bebauungspläne beschlossen, die bis heute negativ nachwirken. Erst in den letzten Jahren ist wieder ein Trend hin zu mehr Schutzzonen zu bemerken. Längst zu spät für viele indes abgerissene Gebäude: Heigerleinstraße 20–22, Thaliastraße 56, Schüttaustraße 56, Döblinger Hauptstraße 2, Mariahilfer Gürtel 33 und unzählige mehr.

Seidengasse 19: erbaut um 1800, Abriss 2022.
Foto: Georg Scherer

Gesetzesreform kam zu spät

Seit der Jahrtausendwende boomt der Wiener Immobilienmarkt, verstärkt noch durch die niedrigen Zinsen, was die Kapitalströme in Richtung Betongold fließen lässt. Die Renditen sind vergleichsweise hoch und Neubauprojekte oft rasch verkauft – unabhängig von der architektonischen Qualität. Gebäude mit hohen Räumen werden durch Neubauten mit niedrigen Geschoßen (und daher mehr Gesamtfläche) ersetzt. Wohnungen mit durch den Richtwert begrenzten Mieten werden in Eigentumswohnungen umgewandelt. Das Mietrecht wird zwar oft für Abrisse verantwortlich gemacht, in der Realität geht es oft aber eher um die Frage der Flächen: Wenn auf einem Bauplatz laut Bebauungsplan viel mehr Fläche möglich ist, warum dann ein altes Haus erhalten, wenn es das Gesetz nicht unbedingt fordert? Da hülfen auch sehr hohe Mieten im Altbau nicht.

Die Stadtregierung hat der Entwicklung lange untätig zugesehen und dabei den Verlust an historischer Bausubstanz und mietrechtlich günstigerem Wohnraum leichtfertig zugelassen. Nach jahrelangen Verhandlungen kam es 2018 zwar zu einer zaghaften Gesetzesänderung – für das Biedermeierhaus in der Seidengasse aber zu spät. Wenige Tage vor Inkrafttreten der neuen Gesetzesbestimmungen wurde um Abbruch angesucht. 2022 wurde dieser vollzogen.

Seidengasse 19: Abbruch noch nach den alten Gesetzesbestimmungen.
Foto: Georg Scherer

Stadt Wien schützt Häuser nicht

Der Umgang mit historischen Gebäuden in Wien ist eine stille Katastrophe. Abrisse auf der Basis privater Gutachten, unzureichender Gesetze und intransparenter Behördenverfahren sind die Normalität. Hier einige aktuelle Beispiele:

Erst kürzlich wurden zwei Villen aus der Zwischenkriegszeit in Hernals abgerissen. Eine war noch original erhalten.

Die Villa in der Braungasse 30 wurde 2022 abgerissen.
Foto: Georg Scherer

In der Kranzgasse im 15. Bezirk steht ein Haus aus dem 19. Jahrhundert kurz vor dem Abriss, obwohl es von den Behörden als erhaltenswert eingestuft wurde. Schon 2021 wurden Teile der Hoftrakte demoliert. Im Februar 2022 ließ die Eigentümerfirma den historischen Fassadenschmuck abschlagen und Fenster herausreißen. Das Haus dürfte zu diesem Zeitpunkt sogar noch teilweise bewohnt gewesen sein. Vor Jahren hatte es für die Liegenschaft sogar umfassende Sanierungspläne gegeben, die aber gestoppt wurden. Vielleicht, weil sich in einem Neubau mehr Fläche erzielen lässt? Der Fall erinnert frappant an die in unmittelbarer Nähe demolierten Biedermeierhäuser in der Mariahilfer Straße. Nachhaltige Schlüsse hat die Politik daraus offenkundig nicht gezogen.

Das Haus in der Kranzgasse 24 nach Demolierungsarbeiten im Februar 2022.
Foto: Georg Scherer

Als nicht effektiv erwies sich die Wiener Bauordnung auch in Favoriten: Ein großes Gründerzeithaus in der Gudrunstraße durfte abgerissen werden, obwohl die Behörden den Abriss anfangs verweigert hatten.

Das Gründerzeithaus in der Gudrunstraße 120 wurde 2021 abgerissen.
Foto: Georg Scherer

In der Ungargasse 25 steht ein rund 200 Jahre altes Wohnhaus, das zum ältesten Teil des 3. Bezirks gehört. Der Eigentümer – ein Investor – will das Haus abreißen lassen. Die Chancen stehen gut, denn Abrisse aus wirtschaftlichen Gründen sind im Wiener Baurecht leicht möglich, zumal es an Sanierungsförderungen mangelt (zu kleiner Altstadterhaltungsfonds).

Dem etwa im frühen 19. Jahrhundert errichteten Gebäude in der Ungargasse 25 droht der Abriss.
Foto: Georg Scherer

Alles andere als rosig sieht es auch in der Breite Gasse 15 aus, hinter dem Museumsquartier. Das dortige Biedermeierhaus verfällt schon seit vielen Jahren. Das Bundesdenkmalamt verweigert eine Unterschutzstellung, die Wiener Behörden können die Erhaltungspflicht offenbar nicht durchsetzen.

Das Biedermeierhaus in der Breite Gasse 15 verfällt seit vielen Jahren.
Foto: Georg Scherer

Alles egal in der Neubau-Architektur

Altstadterhaltung ist die eine Sache. Architektur bei Neubauten die andere. Effektive gesetzliche Regelungen zum Schutz von Altbauten und qualitätssichernde Maßnahmen für Neubauten fehlen aber gleichermaßen, wie kürzlich in einem Blogeintrag im STANDARD besprochen. Immobilienfirmen, Bauunternehmen und Architekturbüros wollen sich verständlicherweise bei ihrer Arbeit nicht dreinreden lassen – und die Politik lässt sie gewähren. Bei Fragen der Neubau-Architektur lassen Regierung und Magistrate auch banalste Gestaltungen zu. Man sei keine "Geschmackspolizei", erklärte der Leiter der Architekturbehörde (MA 19). Derselbe Leiter hatte auch schon einmal ein großes Jugendstilhaus in der Wipplingerstraße im 1. Bezirk als nicht erhaltenswert eingestuft – und damit den Abriss ermöglicht. Wohlgemerkt: Es handelt sich um jene Abteilung, die in Wien für den Ortsbildschutz zuständig ist.

Selbst vor ganz grundlegenden Vorgaben für Neubau-Architektur scheut die Stadt zurück. Ein Beispiel: Am Nordwestbahnhof im 20. Bezirk wird in den kommenden Jahren ein neues Stadtviertel hochgezogen. Droht ein bezugsloses Nebeneinander von Häusern und Stilen? Ich habe mich mit einem Vorschlag an die Stadt gewandt: Beispielsweise könnten die Behörden einige wenige grundlegende Bestimmungen für alle Bauplätze vorgeben – zum Beispiel teilweise Backsteinfassaden, flexible und hohe Erdgeschoßzonen für Geschäfte, Lokale usw., kein grauer Sichtbeton, regelmäßig abwechselnde statt langer monotoner Fassaden, Festlegung bestimmter Fensterformen. Ziel wäre ein durchgehend hochwertiges Häuserensemble, das auch in einigen Jahrzehnten noch einen ansprechenden Eindruck macht. Interesse war von der Stadt aber keines erkennbar. Die Vorsitzende des Fachbeirats für Stadtplanung hat nicht einmal geantwortet. Ist Architektur in Wien einfach allen egal?

Besser nach Biedermeier

Was auf das Biedermeierhaus in der Seidengasse 19 folgt, ist Eigentümern und Architekten überlassen. Gestalterische Vorgaben und qualitätssichernde Maßnahmen durch unabhängige Beiräte existieren in Wien nicht. So kann auf eine verträgliche Gestaltung nur gehofft werden. Dahingehend lohnt sich ein Blick in die Vergangenheit. Schon vor und um 1900 wurden kleine Vorstadthäuser reihenweise abgerissen und durch hohe Historismus- und Jugendstilhäuser ersetzt. Noch bis in die 1930er-Jahre gelang es, durch Abriss und Neubau ästhetische und funktionale Verbesserungen zu erzielen. So auch im 7. Bezirk: An der Ecke Siebensterngasse/Kirchengasse standen bis ins frühe 20. Jahrhundert noch zwei kleine Häuser.

Siebensterngasse 42–44 vor dem Abriss.
Foto: 27343August Stauda (Fotograf), 7., Siebensterngasse 42-44, 1902, Wien Museum Inv.-Nr. 27343, CC0 (https://sammlung.wienmuseum.at/objekt/227991/)

Diese beiden Häuser wurden um 1912 abgetragen und durch ein großes Wohn- und Geschäftshaus ersetzt. Der vergleichsweise moderne Neubau ist mit verschiedensten Fensterformen, Erkern, Dekorelementen und Rundbögen gegliedert. Trotz der beträchtlichen Baumasse ist das Resultat noch heute sehr attraktiv. Die formenreiche und zugleich funktionale Architektur zwischen etwa 1900 und 1960 könnte sich auch hervorragend als Inspirationsquelle für unsere Zeit eignen. Wenn schon abgerissen wird, dann sollte das neue Gebäude auch etwas hermachen und eine möglichst lange Lebensdauer haben. Dazu müssen auch endlich die entsprechenden Baunormen und Vorschriften überarbeitet werden, die derzeit die Kreativität von Architekten einschränken und das Bauen verteuern. (Georg Scherer, 13.6.2022)

Siebensterngasse 42–44: erbaut 1913–1914 nach dem Abriss zweier Biedermeierhäuser.
Foto: Georg Scherer