Die weiterentwickelte Tamagotchi-Generation.

Foto: Lukas Friesenbichler

Das Kissen ist die Rettung. Das "Piep, piep, piep" verschwindet unter ihm, als sei nie etwas gewesen. Endlich Ruhe, durchatmen. Seit Stunden fiept und bettelt das Tamagotchi: Fütter mich! Spiel mit mir! Kümmer dich! Hab mich lieb! Eltern und Haustierbesitzer sind das gewohnt, ich eher nicht. Nach wenigen Stunden bin ich fix und fertig.

Dabei gebe ich doch mein Bestes. Ich trage es in der Handtasche spazieren, selbst auf dem Schreibtisch im Büro liegt es neben mir. Es geht ja um Leben und Tod, irgendwie. Jedes Mal, wenn das Ei Aufmerksamkeit einfordert, drücke ich die drei magischen Knöpfe.

Erst, ohne eine Ahnung zu haben, was auf dem 32 x 16 Pixel kleinen Bildschirm schon wieder los ist: Wie auch, bei dem liebesbedürftigen Exemplar handelt es sich um das erste Tamagotchi meines Lebens. Wenig später begegne ich den Launen des E-Haustiers mit der Nervenstärke einer abgebrühten Tierpflegerin. Wäre ja gelacht, wenn der virtuelle Tod des batteriebetriebenen Kükens nicht zu verhindern wäre!

Genderstereotype Geschäftsidee

So ähnlich muss es Ende der Neunzigerjahre einer ganzen Generation gegangen sein. 1997 eroberte das Tamagotchi, hergeleitet von "Tamago", der japanischen Bezeichnung für Ei, Europa. Die Erfindung des Elektronikherstellers Bandai war neu und aufregend.

Hinter der Idee steckte eine Frau. Bandai-Mitarbeiterin Aki Maita, damals 28, packte die täglichen Bedürfnisse eines Haustiers in ein Kunststoffgehäuse. Ein niedliches E-Tier, das rund um die Uhr Zuwendung braucht und Emotionen über simple schwarz-weiß Grafiken transportiert: Wer konnte da widerstehen?

Vor 25 Jahren eroberte das Tamagotchi Europa. Heute ist es für viele nicht mehr als ein lustiges Retro-Gimmick.
Foto: Lukas Friesenbichler

Das Tamagotchi entpuppte sich als ebenso geniale wie genderstereotype Geschäftsidee. Für das japanische Unternehmen ging die Rechnung auf. Erstmals erreichte ein E-Spielzeug eine überwiegend weibliche Zielgruppe: Die ersten Prototypen testeten 200 Mädchen in Tokio.

Der Funke sprang schnell länderübergreifend über. Seit seiner Erfindung hat sich das Tamagotchi weltweit 85 Millionen Mal verkauft. "Oh Gotchi", stöhnte der Spiegel schon vor 25 Jahren, "in manchen deutschen Städten sind die Dinger hoffnungslos ausverkauft." Die junge Zielgruppe war elektrisiert, Psychologinnen und Psychologen alarmiert.

Werden Kinder traumatisiert, wenn sie nach Tagen der Fürsorge mit dem Tod des virtuellen Haustiers konfrontiert sind? Werden sie je wieder mit Gleichaltrigen spielen? Es kam anders. Viele fütterten und säuberten die süßen Kleinen, bis sie sie entnervt in die Ecke warfen. Wer will schon wochenlang von einem launigen Computertier herumkommandiert werden? In kürzester Zeit legte sich die Euphorie.

Vorgeschmack

Doch sie gab einen Vorgeschmack auf die komplexe Gefühlslage, die zwischen Mensch und Maschine möglich ist. "Das Tamagotchi ist ein frühes Beispiel für ein simples elektronisches Gerät, zu dem unglaublich starke emotionale Beziehungen aufgebaut wurden", sagt Amelie Klein, Kuratorin der Ausstellung "Hello, Robot". Das E-Tier war Teil der Schau.

Klein erinnert sich, dass sie während der Recherche im Internet auf Tamagotchi-Friedhöfe stieß. Dort hatten Kinder Nachrichten wie "Ich habe den einzigen Freund in meinem Leben verloren" hinterlassen. "Das ist es, was Design im digitalen Zeitalter hochinteressant macht", erklärt die Kuratorin. Die Friedhöfe gibt es heute noch, zum Beispiel auf www.raytec.de. Die Website gleicht einem Steinbruch aus den Neunzigern.

An den Kommentaren lässt sich allerdings nachvollziehen, dass nicht jedes tote Tamagotchi eine Depression auslöste: "Mein Bruder war schuld .... Er war schneller am Reset-Knopf ... In ewiger Trauer!", schreibt jemand am 8. August 1997. Oder, im Dezember desselben Jahres: "Du warst hin und wieder ein Quälgeist aber ich vemisse dich."

Heute ist die Relevanz des Tamagotchis dahin. Das batteriebetriebene Ei von damals fällt 2022 in die Kategorie "lustiges, weirdes Retro-Gimmick, das man auf Amazon für 25 Euro bestellen kann". Darüber können auch Apps wie "My Tamagotchi Forever" oder die Tamagotchi-Smartwatch des japanischen Herstellers nicht hinwegtäuschen.

Die Schattenseiten

Immerhin, die großen Dramen rund um das Ei bereiteten die heutigen Mittdreißiger auf die enge Beziehung zum Smartphone vor. Für viele geht der erste Blick am Morgen heute auf das Handydisplay, inniger geht es kaum. Die Schattenseiten des dauerpräsenten Smartphones wurden schnell mit dem Tamagotchi in Verbindung gebracht. Der deutsche Medienwissenschafter Bernhard Pörksen stellte schon Mitte der Zehnerjahre einen "Zustand permanenter innerer Alarmiertheit" fest, er nannte ihn das "Tamagotchi-Gefühl."

Ein Original aus den Neunzigerjahren
Foto: Lukas Friesenbichler

Das Gefühl von damals auf die Schnelle zu rekonstruieren ist nicht so einfach. Zu jenem Tamagotchi, das gerade unter dem Kissen ruhig gestellt ist, bin ich nur über Umwege gekommen. Erst versuchte ich es mit einer Nachricht an die Kollegen und Kolleginnen: Habt ihr noch eines dieser piepsenden Quälgeister? Fehlanzeige. Die einen ließen das Ei vor zwanzig Jahren verhungern, für die Generation Z handelt es sich bei dem Kunststoffgehäuse mit der angehängten Kette um ein merkwürdig unbewegliches Spielzeug aus der Steinzeit.

Sammlerin

Der zweite Versuch, gebrauchte Ware zu organisieren, war erfolgreich. Für stolze 59 Euro gibt’s in einem Wiener Comicladen ein Exemplar aus den Neunzigerjahren, auf einer Onlineplattform ein klassisches Modell für 15 Euro. Die Verkäuferin erklärt, wie es wiederbelebt wird.

Weil ich eine Geschichte über das Tamagotchi schreibe, schickt sie noch ein Link hinterher, zu der Website der Sammlerin Isabell Schlatz, Jahrgang 1984. An ihr kommt keine Tamagotchi-Recherche vorbei. In vielen Artikeln wurde die Deutsche, die zu Hochzeiten 450 Exemplare besaß, als Vertreterin der Generation Tamagotchi zitiert.

Ihre Website tamagotchi.de ist digitales Nachschlagewerk wie historisches Zeugnis: Wenn man sich durch die Seite, die Informationen zu Angelgotchi, dem ersten Modell mit Touchscreen, oder Osuchi und Mesuchi, den ersten Exemplaren, die sich vermehren konnten, klickt, stellt sich ein seltsames Gefühl ein: In welcher Umlaufbahn stecke ich fest?

Auf den Geschmack gekommen

Plötzlich entdecke ich überall Tamagotchi-Zubehör. Auf der Selbstmachplattform Etsy gibt es gehäkelte Donuts, Beutelchen und Hüllen. Deren Beschaffenheit erinnert mich an die fast vergessenen Klopapierhüte auf den Hutablagen. Auch auf dem österreichischen Onlinemarktplatz werden von Amstetten bis Villach 150 Produkte rund um das japanische Ei angeboten. Ich bin erstaunt: Ist das Tamagotchi doch lebendiger als gedacht? Oder wird es 25 Jahre nach seinem Auftauchen adrett zu Tode konserviert?

Ich kontaktiere eine Steirerin, die gehäkelte Tamagotchi-Hüllen und Perlenanhänger in Pastellfarben fertigt: Warum machen Sie das? Die 36-Jährige schreibt, sie sei eine "begeisterte Bastlerin". 1996 habe sie ihr erstes Tamagotchi besorgt, aber erst als Erwachsene wieder angefangen, welche zu kaufen. Sechzehn Stück besitzt sie aktuell, die Teile seien "super zum Abschalten". Sie vermutet, dass ein Großteil ihrer Abnehmerinnen und Abnehmer Erwachsene sind. Ein handarbeitender Tamagotchi-Fan über 30, widerspricht das nicht vielen Klischees, die in den Neunzigerjahren in den Medien verbreitet wurden?

Bevor ich ins Grübeln verfalle, hole ich mein Exemplar unter dem Kissen hervor. "Zzzz", es schläft, ein Glückszustand. Die nächsten Tage füttere ich es mit Burgern und mit Kuchen, herze das Ei, säubere den Bildschirm. Doch die große Liebe ist es nicht. An Tag vier ist der Ofen endgültig aus und das Tier tot. Ich werde eine Anzeige aufgeben müssen: Tamagotchi zu verkaufen, zum Sonderpreis. (Anne Feldkamp, RONDO, 16.6.2022)