Karl Nehammer kann sich nicht einfach aus der Rechnungshof-Affäre ziehen: Er war im beanstandeten Zeitraum Generalsekretär der ÖVP.

Foto: heribert corn

Wien – Die Volkspartei schafft es nicht aus den Skandalschlagzeilen: Nach der Wahlkampfkostenüberschreitung 2017, den diversen Chataffären inklusive Kanzlerrücktritt und der fragwürdigen Doppelstrategie des Seniorenbundes fällt der Rechnungshof nun ein verheerendes Urteil über den Rechenschaftsbericht der Partei für das Jahr 2019. Kurz zusammengefasst: ungeklärte Geldflüsse, möglicherweise nicht deklarierte Spenden, unstimmige Abrechnungen von Wahlkampfkosten.

Kanzler und Obmann Karl Nehammer hat keine Möglichkeit, das als Sünden der vergangenen Parteiführung kleinzureden: Er war im betroffenen Zeitraum ÖVP-Generalsekretär und damit für den Rechenschaftsbericht zuständig, er hat ihn unterschrieben. Wie geht die Partei nun mit dem neuerlichen Skandal um? Vier mögliche Szenarien – ohne Anspruch auf Vollständigkeit.

Szenario 1: Durchtauchen und Ablenken

Die Volkspartei ist darin geübt: warten, bis der Sturm vorbeizieht. Solange die Basis dabei mitspielt, kann das gutgehen. Fragen zum Thema wird ausgewichen, offensiv hochgespielt wird die Geschichte sowieso nicht. Unterstützt wird die Strategie von Ablenkungsmanövern: Asyl und Migration bieten sich als Themen an, um die mögliche Korruption von den Titelblättern der Zeitungen zu verdrängen.

Aufsehenerregende Gesetzesinitiativen würden aufs Tapet kommen (möglicherweise wäre das ein günstiger Moment, um das längst ausverhandelte Informationsfreiheitsgesetz zu beschließen). Auch Razzien im kriminellen Milieu können dafür hochgejazzt werden.

Szenario 2: Angriff auf die Institutionen

Auch diese Taktik kennt man schon, vor allem von Nehammers Vorgänger Sebastian Kurz: Er hatte die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) zunächst in einem Hintergrundgespräch angegriffen, als diese gegen ÖVP-Politiker zu ermitteln begann. Kurz ortete "rote Netzwerke" in der Justiz. Später wurden die Angriffe öffentlich. Verfassungsministerin Karoline Edtstadler (ÖVP) etwa lud zu einer Pressekonferenz ohne Neuigkeiten, dafür mit einer Wiederholung der Kritik an der WKStA.

Ähnliches wäre auch im aktuellen Fall denkbar: Die Volkspartei würde in diesem Szenario den Rechnungshof attackieren, ihm unlautere Methoden oder das Messen mit zweierlei Maß vorwerfen. Zu dieser Strategie würde auch die Betonung der Unschuldsvermutung gehören, schließlich entscheiden am Schluss Gerichte über Recht und Unrecht und nicht der RH – unabhängig davon, welche Fakten auf dem Tisch liegen und dass ja kein Gesetz darüber entscheidet, was politisch sauber ist und was nicht.

Szenario 3: Saubere Aufarbeitung

Eine schmerzhafte Vorstellung für die Volkspartei, aber angesichts der schieren Anzahl und Schwere der Vorwürfe eine realistische Option: die komplette Aufarbeitung sämtlicher Skandale. Die Partei müsste schonungslos zur Aufklärung beitragen, Fehler transparent machen.

Undenkbar allerdings, dass diese Möglichkeit ohne umfangreiche personelle Konsequenzen auskommt. Weil der aktuelle Skandal auch tief in die verschiedenen Teilorganisationen der Partei reicht, würde das auch Bünde und Landesparteien betreffen. Allen voran könnte Nehammer seinen Job nicht behalten. Die notwendigen Personalrochaden sind es allerdings auch, die dieses Szenario so unwahrscheinlich machen.

Szenario 4: Auflösung und Neugründung

Wenn maßgebliche Persönlichkeiten in der Partei zum Schluss kommen, dass die Marke ÖVP irreparabel beschädigt ist, könnte deren Schluss lauten: Besser ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende. Es wäre das Ende der Volkspartei als Organisation, aus dem entstehenden Chaos und der Lücke, die die ÖVP in der Parteienlandschaft hinterlässt, könnte sich eine oder mehrere neue Parteien entwickeln. Ohne Skandale, ohne Altlasten.

Was klingt wie eine linke Phantasie, ventiliert ausgerechnet der VP-nahe Berater Wolfgang Rosam: Wenn es mit der Partei so weitergehe, drohe ihr das Schicksal der Democrazia Cristiana. Die konservative italienische Partei hatte sich 1994 nach einer Vielzahl von Korruptionsskandalen aufgelöst. "Sehe in meiner langen Karriere rabenschwarz für die Schwarzen", schreibt Rosam auf Twitter. (Sebastian Fellner, 11.6.2022)