Mobilitätsexpertin Angelika Rauch fordert im Gastkommentar, die bestehenden Engpässe bei der Bahn zu überwinden, um die Mobilitätswende zu schaffen.

Szene 1: Ich würde gerne am verlängerten Wochenende (Fronleichnam) mit dem Nachtzug von Wien nach Florenz fahren. Keine Chance. Kein einziger Sitzplatz, geschweige denn Schlafplatz frei. Szene 2: Meine Tochter ruft mich verzweifelt an, sie soll aus dem Railjet nach Jenbach aussteigen, was soll sie tun? Wenn sie jetzt nicht weiterfährt, ist der Anschlusszug der Zillertalbahn weg, dann kommt sie nicht mehr ins Tal. Wahrscheinlich ließen sich noch unzählige weitere Szenen auflisten. Was ist also los mit der Bahn?

Endlich fahren mehr Menschen mit der Bahn. Eine Verkehrsverlagerung, die von Verkehrsexpertinnen und -experten seit Jahrzehnten gefordert wurde, findet nun endlich statt. Warum gibt es jetzt Kapazitätsengpässe und Überforderung?

Die Nachfrage ist stark gestiegen: Nicht alle Zugreisenden fanden immer Platz im gewünschten Zug.
Foto: Christian Fischer

Ja, die Entwicklung war vorhersehbar, zumindest teilweise. Angebote wie das österreichweite Klimaticket oder die Einführung des flächendeckenden Parkpickerls in Wien, neue attraktive Bahnverbindungen wie ein Nachtzug zwischen Paris und Wien geschehen nicht einfach so, sondern sie werden letztlich von der öffentlichen Hand geplant und implementiert. Dass sie zu Verkehrsverlagerungen weg vom Auto hin zum öffentlichen Verkehr führen, war sowohl intendiert als auch erwartbar. Teurer Sprit wegen steigender Ölpreise hingegen schon etwas weniger. Insgesamt hätte man sich da schon ein etwas besser koordiniertes Vorgehen gewünscht.

"Wir haben es in der Hand, welche Weichen gestellt werden sollen. Gibt es eine Alternative zum eigenen Auto?"

Aber lassen wir die Ursachenforschung für einen Moment beiseite. Wichtig ist jetzt, wie wir mit der Situation umgehen, wie wir die aktuellen Probleme der Kapazitätsengpässe der Bahn lösen und den Trend, den sich Verkehrsexpertinnen und -experten schon so lange wünschen, nicht gleich wieder abwürgen, indem Fahrgäste im überfüllten Zug stehend stundenlang ausharren müssen, um an ihr Ziel zu kommen. Wer so etwas erlebt, wird vielleicht beim nächsten Trip doch wieder das Auto nehmen. Eine generelle kostenpflichtige Reservierungspflicht für Sitzplätze ist da jedenfalls keine Lösung, wie den Verantwortlichen glücklicherweise schnell klargeworden ist.

Was also tun? Kurzfristig gilt es, mehr Sitzplätze auf den bestehenden Strecken anzubieten. Das geht über Kooperationen zwischen Bahnunternehmen – etwa auf der Weststrecke die Kooperation von Westbahn und ÖBB –, die in Corona-Zeiten trotz Konkurrenz plötzlich möglich war. Oder auch über Taktverdichtungen. Mittelfristig – und das wurde ja auch bereits angekündigt – wird es darum gehen, mehr Zuggarnituren anzuschaffen, um so Kapazitäten auf stark frequentierten Strecken und zu Spitzenzeiten ausweiten zu können. Auch um die Infrastruktur wird man sich Gedanken machen müssen, zum Beispiel mehr Gleise und Strecken entlang jener Korridore, wo Taktverdichtungen nur mehr schwer möglich sind.

Frage des Geldes

Ende 2020 wurden fast 41 Milliarden Euro für den Bahnausbau mit seinen Herzstücken Koralm, Semmering- und Brenner-Basistunnel reserviert. Viel Geld, doch der Ausbau von Infrastruktur geht nicht von heute auf morgen, das sind Entscheidungen für die Zukunft.

Langfristig ist es eine Grundsatzentscheidung, wie ernst wir die vielbeschworene "Mobilitätswende" tatsächlich nehmen und wie wir unsere Prioritäten setzen. Wir alle, wir als Gesellschaft, als Staat, als Steuerzahlende, als Verantwortliche, als mobile Menschen. Wie viel Geld ist uns der öffentliche Verkehr wert? Und ist es uns etwas wert, dass alle Menschen unabhängig von ihrem Einkommen, ihrer sozialen Schicht mobil sein können? Falls ja, sollten wir uns vom Prinzip der reinen Profitmaximierung im Mobilitätssystem so schnell wie möglich verabschieden und es zu einem am Gemeinwohl orientierten System umgestalten. Sonst kann und wird es keine nachhaltige Mobilität geben, schon gar nicht in entlegenen ländlichen Gebieten.

Wir benötigen Subventionen und Förderungen für ein Bahn- und Busnetz mit Abdeckung der ersten/letzten Meile, das eine echte Alternative zum eigenen Auto ist, weil es bequem und angenehm ist und keinen Verzicht, sondern einen Gewinn darstellt. Nicht nur ökologisch, sondern auch sozial, weil auch nicht vergessen werden darf, wie viele Menschen sich kein eigenes Auto leisten können und auf den öffentlichen Verkehr angewiesen sind.

Ineffiziente Züge?

Ist das finanzierbar? Ja! Halbleere Zugabteile, Züge und auch Busse, die auch nachts und in entlegenere Gebiete fahren, die – für sich allein genommen – wirtschaftlich unrentabel sein mögen, helfen uns an anderer Stelle viel Geld zu sparen. Weniger Verkehrstote, weniger Stau, weniger Gesundheitskosten infolge von Lärm und Abgasen, geschweige denn von den Strafzahlungen, die Österreich bezahlen muss, wenn wir unsere Treibhausgas-Emissionen nicht nachhaltig reduzieren. Wenn dies alles gegengerechnet wird mit halbleeren, ineffizienten Zügen abseits von Stoßzeiten und Strecken, die keinen Gewinn bringen und es uns so gelingt, den Pkw-Verkehr zu reduzieren und Menschen für den öffentlichen Verkehr zu gewinnen, ist es sehr wohl finanzierbar.

Nur über volle Züge zu schimpfen, ist jedenfalls zu wenig: Wir haben es in der Hand, welche Weichen gestellt werden sollen. Gibt es eine Alternative zum eigenen Auto? Oder tappen wir in die alte Falle und vergraulen die Menschen wieder, die nun verstärkt Bahn fahren (Angelika Rauch, 12.6.2022)