Die Umfragen vor dem ersten Durchgang der Parlamentswahl sorgen bei Emmanuel Macron nicht unbedingt für gute Laune.

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Die Parlamentswahlen vom 12. und 19. Juni sollten für Emmanuel Macron eine Formalität sein: Nach der Präsidentenwahl geben die Franzosen dem Staatschef eine Mehrheit in der Nationalversammlung mit. Er soll ja regierungsfähig sein und seine Wahlversprechen umsetzen können.

Nun zeigen die Umfragen vor dem ersten Wahlgang am Sonntag eine offene Situation. Den Macronisten werden zwar 250 bis 300 Sitze in der 577-köpfigen Nationalversammlung prophezeit. Doch die "neue ökologische und soziale Volksunion" (Nupes) des Linkspopulisten Jean-Luc Mélenchon kommt in einzelnen Erhebungen auf 200 Sitze – Tendenz steigend.

Angriffiger Wahlkampf

Der Kontrast könnte nicht größer sein: Während Macron angeschlagen in seine zweite Amtszeit geht, gelingt Mélenchon eine sehr angriffige Kampagne. Geschickt verbreitet er das Narrativ, er werde Macron im Fall seines Wahlsieges zwingen, ihn zu seinem Premierminister zu ernennen. Damit könnte er die Regierungspolitik weitgehend festlegen.

In Frankreich will es die Verfassung, dass es dem Präsidenten vorbehaltlich einer Misstrauensabstimmung im Parlament freisteht, seinen Regierungschef zu bestimmen. Mélenchons rechte Hand Manuel Bompard stellte das aber in einem Interview brutal in Abrede: "Doch, kleiner Kerl, du wirst ihn (Mélenchon, Anm.) ernennen!" Die Anrede Macrons als "bonhomme" stellt die präsidiale Autorität grundsätzlich in Frage und spricht Bände über die geschwächte Stellung des Staatschefs.

Schulterschluss zahlt sich aus

Mélenchon steht an sich gar nicht so gut da, wie er posaunt. Die Grünen, Kommunisten, Sozialisten und seine "Unbeugsamen" ("insoumis") kommen in den Umfragen auf weniger Stimmen, als ihre Kandidaten bei der Präsidentschaftswahl im April zusammengerechnet erhalten hatten. Doch der Schulterschluss hinter Mélenchon wirkt sich im französischen Mehrheitswahlrecht überproportional aus.

Der 70-jährige Trotzkist hat zudem eine persönliche und politische Dynamik gegen Macron und seinen "neoliberalen" Kurs geschaffen. "Mélenchon hat begriffen, wie verhasst der als arrogant geltende Präsident bei vielen Wählern ist, und schießt sich deshalb voll auf ihn ein", sagt der Politologe Pascal Perrineau.

Die Volksunion verkündet deshalb bewusst, sie werde das Pensionsalter, das Macron von 62 auf 65 Jahre erhöhen will, auf 60 Jahre senken. Das kommt gut an und verstärkt noch die Unbeliebtheit des Präsidenten. Während er nun zurückzurudern beginnt und eine Erhöhung auf 64 Jahre ins Auge fasst, gibt sich die Linke kämpferisch: "Gegen Macrons Pensionsreform lancieren wir die Mutter aller Schlachten", droht Frédéric Souillot, neuer Sekretär der Gewerkschaft Force ouvrière, die Mélenchon nahesteht.

Le Pen als Statistin

Die übrigen Parteien müssen sich angesichts des Duells Macron gegen Mélenchon mit der Statistenrolle abfinden. Die Rechtspopulistin Marine Le Pen tauchte nach der Präsidentenwahl ähnlich wie Macron wochenlang ab; Nahestehende munkelten von einem "Nach-Wahl-Blues". Rechte Themen wie Migration sind im Wahlkampf abwesend, alles dreht sich um Inflationsbekämpfung und soziale Maßnahmen.

Der Trend ist aber klar: In Frankreich geben heute die Populisten den Ton an. Zusammen kommen Lepenisten, Mélenchonisten und Anhänger von Eric Zemmour heute auf eine Mehrheit der Stimmen.

Die Misere der Grande Nation

Im Parlament werden sie zwar selten zusammen stimmen. Der geballte Vormarsch der Volksverführer wirft aber ein Schlaglicht auf die zunehmende soziale, politische und mediale Misere der Grande Nation. Jungwähler gehen kaum mehr abstimmen, und wenn, informieren sie sich über die sozialen Medien, wo scharfzüngige Extremisten dominieren.

Das politische Gedächtnis spielt dabei keine Rolle mehr. So präsentiert sich Mélenchon heute als Putin-Gegner; seine frühere Nähe zum russischen Machthaber hat er mit ein paar starken Worten bereits vergessen gemacht. Macron steht dagegen in der Kritik, weil er unlängst erklärt hatte, er wünsche "keine Erniedrigung Putins". Dabei liefert Frankreich auch schwere Waffen an die ukrainische Armee – was Mélenchon ablehnt. Aber auch diese Nuancen gehen in dem zerfahrenen Parlamentswahlkampf völlig unter. (Stefan Brändle aus Paris, 12.6.2022)