Höchste Zeit, dass die StVO-Novelle diese Zumutung entschärft, sagt der Alltagsradfahrer und ehemalige Grünpolitiker Volker Plass im Gastkommentar.

Radeln gegen die Einbahn generell erlauben? Das sieht die 33. Novelle zur Straßenverkehrsordnung vor. Die Begutachtungsfrist ist Anfang Juni zu Ende gegangen.
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Anfang der Neunzigerjahre ereignete sich in der Wiener Verkehrsplanung Unglaubliches: Innovativ denkende Magistratsbeamte hatten eine in der Straßenverkehrsordnung (StVO) schlummernde Möglichkeit entdeckt und öffneten immer mehr Nebenstraßen für "Radfahren gegen die Einbahn".

Der Untergang des Abendlandes war damals nah: Ein Radfahrer-Massensterben wurde prophezeit, und der Rechtsstaat drohte durch die Aushöhlung einer der fundamentalsten Verkehrsregeln vor die Hunde zu gehen. Aber die Katastrophe blieb aus. Heute ist der vermeintliche Gesetzesverstoß "Radfahren gegen die Einbahn" nicht nur eine kostengünstige und sichere, sondern auch eine weitgehend akzeptierte Methode, die Wege der Radfahrer zu verkürzen. Und sie soll mit der nun vorgelegten Novelle der StVO von der Ausnahme zur Regel in fast allen Nebenstraßen gemacht werden.

Ziviler Ungehorsam

"Radfahren gegen die Einbahn" wurde seinerzeit aber nicht nur zur Förderung des klima- und umweltfreundlichen Radverkehrs eingeführt. Die Maßnahme diente auch der Legalisierung einer damals weitverbreitenden Missachtung der Einbahnregelungen durch die Radfahrer. Nicht, weil Radfahrer per se rücksichtslose Gesetzesbrecher wären, sondern weil sich gerade Alltagsradler permanent in einem durchaus legitimen zivilen Ungehorsam gegen eine fast ausschließlich an den Bedürfnissen des Autoverkehrs orientierte Straßenverkehrsordnung befinden. Radfahrer benötigen keine Einbahnen, sie werden durch diese nur behindert.

Versuchen wir den Konflikt anhand einer zweiten "heiligen Kuh", die durch die bevorstehende StVO-Novelle nun endlich geschlachtet wird, zu verstehen: der des Rechtsabbiegens bei roter Ampel – eine Ausnahme, die Radfahrern zukünftig an dafür geeigneten und speziell ausgeschilderten Kreuzungen erlaubt werden soll.

Sinnlose Zumutung?

Ein jeder von uns kennt das Phänomen: Sitzen wir am Steuer eines Autos, ist die gehorsamste Beachtung einer roten Ampel sogar spät nachts an vollkommen vereinsamten Kreuzungen eine Selbstverständlichkeit. Stehen wir jedoch als Fußgeher oder Radfahrer vor einer verwaisten roten Ampel, wird uns diese sinnlose Zumutung sofort auf unangenehmste Weise bewusst. Jetzt ohne wirklichen Grund – etwa gerade zusehende Kleinkinder – stehenzubleiben und sich einer gar nicht anwesenden, aber offensichtlich höheren Gewalt zu beugen kommt einer schmerzvollen Demütigung gleich. Und wer von uns hat in solchen Fällen noch nie das Rotlicht ignoriert?

"Zumindest im Radius von fünf Kilometern gibt es innerstädtisch kein schnelleres Verkehrsmittel als das Fahrrad."

So wie Einbahnregelungen existieren die meisten Ampeln nicht, weil sie für Menschen notwendig wären. In Venedig oder in kleinen Waldviertler Dörfern gibt es keine Ampeln. Ampeln sind notwendig, weil ein Teil der Menschen weitgehend störungsfrei mit dem Auto durch die Stadt rasen möchte. Dass sich viele Radfahrer dieser Anmaßung zumindest im niederrangigen Straßennetz nicht mehr bedingungslos unterordnen, sagt nichts über den vermeintlich mangelhaften Charakter der Radfahrer aus, jedoch vieles über ein für sie vollkommen ungeeignetes Gesetz, das – wie in anderen Ländern längst geschehen – nun auch in Österreich dringend modernisiert werden sollte.

Ein Kulturkampf

Diesen Kulturkampf erleben wir gerade: Jede Begegnungszone, jede Parkspur, die für Fuß- oder Radwege weichen muss, und jede Gesetzesänderung mit neuen Ausnahmen zugunsten des Radverkehrs ist ein Eingriff in eine jahrzehntealte, fast als naturgesetzlich empfundene Ordnung, die Kraftfahrzeuge gegenüber allen anderen privilegiert. Kein Wunder, dass Autofahrerorganisationen wie der ÖAMTC oder auch die Wirtschaftskammer jetzt aufschreien!

Neben der erwähnten Demütigung schwächerer Verkehrsteilnehmer durch den mächtigen Autoverkehr gibt es noch zwei weitere Gründe, warum es für viele Radfahrer fast "unmöglich" ist, vor roten Ampeln stehenzubleiben: Rote Ampeln schmälern den größten Vorteil des Radfahrens, und sie maximieren dessen größten Nachteil.

Unnötige Energievernichtung

Zumindest im Radius von fünf Kilometern gibt es innerstädtisch kein schnelleres Verkehrsmittel als das Fahrrad. Jede Minute Wartezeit, die man mit dem oft vollkommen sinnlosen Betrachten eines roten Lichtes verbringt, macht einen Teil dieses Vorsprungs zunichte. Und Radfahrer betreiben ihr Fahrzeug nicht mit einem aus fossiler Energie gespeisten Motor, sondern mit höchstpersönlicher Körperkraft. Jeder unnötige Bremsvorgang ist eine Vernichtung dieser bereits vollbrachten Arbeitsleistung. Und jedes Antreten erfordert nicht bloß einen sanften Druck auf ein Gaspedal, sondern erneute und nennenswerte körperliche Anstrengung. Ist es da ein Wunder, dass Radfahrer sehr versucht sind, diese Energievernichtung zu vermeiden?

Die Frage, unter welchen Voraussetzungen Menschen Regeln beachten oder ignorieren, hat die Verhaltensforschung längst beantwortet: Es sollte sich um eher wenige, jedoch wichtige und gut begründete Vorschriften handeln, und diese müssen als einigermaßen gerecht empfunden werden. Radfahrern das Abbiegen bei Rot zu erlauben wird in Österreich genauso gut funktionieren wie in anderen Ländern. Und es könnte dazu beitragen, dass Radfahrer durch diese ihnen entgegengebrachte Wertschätzung die wirklich wichtigen Verkehrsregeln mehr respektieren als bisher. (Volker Plass, 11.6.2022)