Vorige Woche hat die Finanzmarktaufsichtsbehörde FMA ihr 20-jähriges Bestehen gefeiert. Helmut Ettl wechselte 2008 von der Nationalbank in den Vorstand der Aufsichtsbehörde, mitten in der Finanzkrise. Ein Gespräch über damals und heute und die künftigen Anforderungen an die Branche.

STANDARD: Die FMA ist gerade 20 Jahre alt geworden, Sie sind seit 2008 im Vorstand. Um wie viel sind Sie in den 14 Jahren gealtert?

Ettl: Muss man die Fotos vergleichen.

Fotografin: Schlimm.

Ettl: (lacht) Nicht so schlimm. Weil mich die Herausforderungen hier vom ersten Tag an fasziniert haben, was damals viele nicht verstanden, und weil es mir Spaß macht, sie zu bewältigen.

Für Helmut Ettl stellen die "sehr aggressive Expansion nach Osteuropa" und die Finanzkrise die größten Brüche in der Bankenlandschaft dar. Die Fremdwährungskredite seien "kein Ruhmesblatt" der Branche gewesen.
Foto: Regine Hendrich

STANDARD: Eigentlich ist die FMA 142 Jahre alt, 1880 hat Franz Joseph eine Versicherungsaufsicht gegründet, weil das Vertrauen der Leute in die Branche am Boden war.

Ettl: Wobei es in der Versicherungsbranche, abgesehen von der Phönix-Pleite in den 1930ern, in den vergangenen hundert Jahren kaum Krisen gab

STANDARD: Was man von den Banken nicht behaupten kann …

Ettl: Ja, bei den Banken sind die Risiken auch vielfältiger.

STANDARD: Stichwort Risiko: Was war der größte Flop der FMA?

Ettl: Es hat keinen Flop der FMA gegeben, überhaupt keinen. Es gab gewaltige Herausforderungen für sie und wir haben dazugelernt. Bei der FMA-Gründung 2002 dachte man, es kann keine Krisen im Finanzsektor geben, weil es in Österreich nach 1945 keine mehr gab. Pleiten gab es nur vereinzelt, bei Kleinstbanken. Geriet ein Institut in Schieflage, hat man es im jeweiligen Sektor saniert, die großen Institute mit Geld vom Steuerzahler. Die Stabilität war unheimlich groß, Österreich war daher überhaupt nicht auf eine Krise im Finanzsektor vorbereitet.

STANDARD: Kleinere Banken sind aber schon umgefallen, die Riegerbank etwa …

Ettl: Ja, kleine kriminelle Geschichten gab es immer wieder einmal, aber die hatten keine großen Auswirkungen.

STANDARD: Die Commerzialbank Mattersburg, die im Sommer vor zwei Jahren zusammenkrachte ist doch ein Aufsichtsflop: 30 Jahre lang Malversationen und niemandem fiel etwas auf, obwohl die Aufseher oft im Haus waren.

Ettl: Die Commerzialbank ist ein Kriminalfall und kriminelle Machenschaften wird man nie ausschließen können. Aufsicht und Regulierung sind weder dafür da, noch in der Lage, Insolvenzen auszuschließen. Österreich hat, anders als viele andere Länder, sehr viele kleine Banken, die allen den Zugang zu Bankdienstleistungen ermöglichen. Eine Konsequenz daraus ist, dass diese kleinen Banken auch untergehen können. Man kann die rund 500 kleinen Institute nicht so beaufsichtigen wie große, in denen praktisch permanent Aufseher drinnen sind. In so einem System wird es immer wieder zu Ausfällen kommen oder jemanden geben, der in die Kasse greift. Wir nehmen übrigens auch immer wieder Banken aus dem Markt, das fällt Ihnen nur nicht auf. Die Meinl Bank etwa oder die Anglo Irish/Valartis Bank und einige mehr.

Nach dem Zusammenbruch der Commerzialbank Mattersburg kam auch das Büro von Bankchef Martin Pucher unter den Hammer.
Foto: aurena.at

STANDARD: Ist mir aufgefallen. Den Commerzialbank-Zusammenbruch verstehe ich trotzdem nicht, da hat sogar die FMA einmal Anzeige erstattet, es gab schon 2015 einen Whistleblower-Tipp und die Vor-Ort-Prüfer der Nationalbank waren oft dort.

Ettl: Nein, die Commerzialbank stand nicht unter Spezialbeobachtung. Ja, man hat nach einem Whistleblower-Hinweis Prüfteams hingeschickt und die kamen mit dem Ergebnis zurück: "Nein, das kann nicht sein." Die Beweise, die man gesucht hat, sind nicht gefunden worden.

STANDARD: Würden Sie ein Buch über die Aufsicht schreiben: Welchen Titel würden Sie dem Kapitel Commerzialbank geben, wenn nicht "Misserfolg"?

Ettl: "Erfahrung, die man als Aufseher so nicht unbedingt machen möchte, die aber jeder Aufseher im Laufe seines Lebens macht."

STANDARD: Langer Titel.

Ettl: Ja, aber Kriminalfälle wird es immer geben wie etwa in der genannten Riegerbank.

STANDARD: Deren Insolvenzverfahren wurde 2021 nach 23 Jahren beendet. Auch kein Ruhmesblatt?

Ettl: Aber dafür können wir nun wirklich nichts. Wenn wir abwickeln, sind wir viel schneller.

STANDARD: Bankinsolvenzen dauern heute im Schnitt 15 Jahre.

Ettl: Ja, bis das letzte Rechtsrisiko erledigt ist. Aber heute haben wir ein Regime, in dem man Banken früher zusperren kann, wir können sie geordnet abwickeln und es gibt das Einlagensicherungssystem. Unser System ist nicht, jede Bank überleben zu lassen, sondern es geht um geregelten Markteintritt und Marktaustritt, ohne dass es zu Turbulenzen kommt. Das bewährt sich – bei der Sberbank hat man das zuletzt ja gesehen. Da haben wir innerhalb weniger Tage einen Bankbetrieb geschlossen, obwohl es Töchter im EU- und im Nicht-EU-Ausland gab und eine russische Mutter. Und die Einlagensicherung hat das gesamte Geld samt Zinsen innerhalb weniger Wochen zurückbekommen. Wir hoffen, dass die Abwicklung noch heuer beendet werden kann.

STANDARD: Noch einmal kurz zur Commerzialbank. Sie waren wegen Ihrer Zeugenaussage im burgenländischen Commerzialbank-U-Ausschuss selbst Beschuldigter. Hat Sie das belastet?

Ettl: Es ist kein angenehmes Erlebnis, nichts, was man anstrebt.

STANDARD: Was hat die FMA aus der Sache gelernt?

Ettl: Auch Prüfer in der Aufsicht denken grundsätzlich positiv und gehen nicht immer vom Schlimmsten aus. Wenn man eine Bankprüfung beginnt, erwartet man ja keine negativen Überraschungen, an Probleme tastet man sich heran. Und wenn ein Prüfer noch nicht erlebt hat, was alles möglich ist, hat er eine psychologische Barriere, das Schlimmste zu denken: "Ich bin hier umgeben von einer kriminellen Organisation."

STANDARD: Sie haben Ähnliches in der Bawag erlebt, die Sie ab 2005 als OeNB-Prüfer unter der Lupe hatten?

Ettl: Ja, da haben sehr viele zusammengespielt, um einen gigantischen Verlust aus der Vergangenheit zu verschleiern. Und man darf nicht vergessen: Als Bankprüfer schaut man sich an, ob die bankrechtlichen Vorschriften eingehalten werden und nicht, ob Gelder verschwunden sind. Bankprüfer gehen von einer redlichen Umgebung aus. Die Aufsicht hat andere Aufgaben als die Staatsanwaltschaft oder die Polizei.

Die früheren Bawag-Chefs Helmut Elsner (rechts) und Johann Zwettler mussten sich 2008 im Unterausschuss des Rechnungshof-Ausschusses im Parlament verantworten.
Foto: Techt/APA/picture

STANDARD: Sie sagen, Ihre Erkenntnisse aus der Bawag und der 2009 notverstaatlichten Kärntner Hypo Alpe Adria haben Sie am meisten überrascht in Ihrem Berufsleben. Gab es seither andere große Überraschungen?

Ettl: Die Finanzkrise 2008: Man wusste aus dem Lehrbuch, dass ein Finanzsystem zusammenbrechen kann, aber es zu erleben, war etwas anderes: Alles kollabierte und Schwächen wurden unbarmherzig aufgedeckt.

STANDARD: Vor 20 Jahren war die Welt der von der FMA beaufsichtigten Banken noch eine andere. Die Bawag gehörte dem ÖGB, heute einem US-Hedgefonds. Die Hypo Alpe Adria war eine landeseigene Provinzbank, die österreichischen Banken expandierten in den Osten. Worin sehen Sie die größten Brüche in der Bankenlandschaft?

Ettl: Es gab zwei große Brüche: die sehr aggressive Expansion nach Osteuropa und die Finanzkrise. Die frühzeitige Ost-Expansion von Österreichs Banken hat sich langfristig als richtiger Schritt herausgestellt, aber manches erwies sich nachher als gefährlich: Die betroffenen Banken hatten sehr wenig Eigenkapital und die Expansion wurde über die österreichischen Mütter finanziert, die Euro-Liquidität floss in die Ost-Töchter, die Fremdwährungskredite vergaben. Und diese Fremdwährungskredite sind nicht das Ruhmesblatt der österreichischen Bankenindustrie, weder in Osteuropa, noch in Österreich – und sie bargen ein enormes Risiko.

STANDARD: Und die Aufsicht hat weggeschaut?

Ettl: Wir haben vom ersten Tag an vor dem Risiko der Fremdwährungskredite gewarnt – aber wir hatten damals keine Eingriffsmöglichkeiten, weder hier, noch in den Osteuropa-Töchtern. Vor 2008 wurden Aufsicht und Regulierung nur als geschäftsschädigende Bürde angesehen. Dass sich das gedreht hat, war der Finanzkrise geschuldet und es war ein sehr schmerzhafter Prozess. Die, die damals 2008 und 2009 in der Krise an den Tischen und in den Nächten beieinander gesessen sind, Banker wie Aufseher, erkennt man heute noch: Die haben ein ganz anderes Verständnis von der Notwendigkeit von Aufsicht und Regulierung als andere.

STANDARD: Die meisten davon sind aber schon in Pension.

Ettl: Stimmt, es gibt nicht mehr so viele, die dabei waren. Die, die es waren, hatten eine körperliche Stresserfahrung, die sie nie mehr aus ihren Köpfen bekommen. Damals jedenfalls wurde die Finanzmarktregulierung auf völlig neue Beine gestellt.

STANDARD: Da müssen Sie wohl Banken- und Wirtschaftszeitgeschichte in ihre Fit&Proper-Tests für Manager aufnehmen?

Ettl: Wir diskutieren das Thema gerade für unsere interne Prüferausbildung und unseren Uni-Lehrgang zum Master für Finanzmarktaufseher. Da fehlt das Thema Wirtschaftskrise. Und das gilt ja allgemein, auch die Bevölkerung in Österreich weiß nicht, was das historisch normale Zinsniveau und was Inflation ist – und dass es Krisen gibt.

STANDARD: Jetzt lernt sie es gerade, die Bevölkerung. Früher gab es Patriarchen-Bankchefs wie Walter Flöttl oder Helmut Elsner von der Bawag, Gerhard Randa von der Bank Austria oder, noch viel früher, Heinrich Treichl von der Creditanstalt, CA. Wie haben sich die Banker verändert?

Ettl: Diese langjährigen Einzelspieler, diese Kaiser, Könige und Fürsten sind uns abhanden gekommen, allein durch die Governance der Institute. Ich glaube, Patriarchen gibt es gar keine mehr. (zwinkert)

Damals, 1981 in der Creditanstalt, gab es noch Patriarchen: Heinrich Treichl, Fritz Bock und Hannes Androsch (von rechts)
Foto: Votava/Imagno/picturedesk

STANDARD: Wie sind die jetzigen Bosse?

Ettl: Ganz anders, weil auch das Leben ganz anders geworden ist. Auch das Verhältnis zwischen Banken und Aufsicht hat sich verändert, allein durch die Compliance-Regeln. Heute wird das Thema Aufsicht nicht beim Mittagessen besprochen, sondern es gibt einen sachlichen Diskurs und der findet in den Räumlichkeiten der FMA statt. Schon das umzusetzen, war ein kultureller Bruch.

STANDARD: Dafür fühlen sich die Banken jetzt an der Kandare, weil "überreguliert".

Ettl: Diese Diskussion führen wir seit langem. Wir Aufseher sind ja stärker für eine prinzipienorientierte Aufsicht: weniger Regelungen, aber die voll durchziehen, was mehr Flexibilität böte. Die Beaufsichtigten, die sich später über die Detaillierung der Vorschriften beschweren, möchten die Hände der Aufsicht aber so weit wie möglich binden – und das läuft über dichte Vorschriften. Ein klassisches Dilemma. Dazu kommt noch die globale Regulierung, die extrem komplex ist.

STANDARD: Im parlamentarischen Untersuchungsausschuss geht es viel um politische Intervention. Sie sagen, die gebe es nicht mehr. Wirklich nicht?

Ettl: Ja, politische Intervention in der Aufsicht gibt es de facto nicht. Zu dieser Aussage stehe ich. Natürlich gibt es Diskussionen über verschiedene Themen, aber diese indirekte Beeinflussung über irgendwelche diskreten Wege findet nicht statt in der FMA. Seit dem Banken-U-Ausschuss 2006 hat jeder Politiker Angst, dass seine Nachricht in einem U-Ausschuss landet. Und auch wir in der FMA haben eine Regel: Wir müssen unsere Arbeit so verrichten, dass wir alles, was wir hier tun transparent machen können. Die FMA hat eine strenge Compliance und wer sich nicht dran hält, der muss gehen. Da haben wir zero tolerance.

STANDARD: Wie oft haben Sie in dem Konnex schon jemanden rausgeworfen?

Ettl: Das passiert selten, aber immer wieder. Schwere Verwarnungen hat es schon öfter gegeben.

Wäre es nach den Plänen der türkis-blauen Regierung unter Sebastian Kurz und Heinz-Christian Strache gegangen, wäre Ettls Vorstandsposten per Gesetz abgeschafft worden.
Foto: APA/Roland Schlager

STANDARD: Stichwort Politik. Sie bzw. ihr Vorstandsposten sollte ja im Rahmen der von Türkis-Blau geplanten Aufsichtsreform abgeschafft werden per Gesetz, Sie gelten als Roter. Hat das noch Folgen?

Ettl: Das ist vorbei, Sache der Vergangenheit.

STANDARD: Covid, Inflation, Krieg: Wo drohen die nächsten Brüche?

Ettl: Die Frage, die sich allen Staaten stellt ist: Können wir uns auf einander verlassen? Ich hoffe es und ich hoffe, dass wir in Europa nicht in neue Nationalismen verfallen. Für Österreichs Banken wäre die Erweiterung der Eurozone und der Bankenunion wichtig, das brächte mehr Bewegungsspielraum und Sicherheit. Und die Umstellung auf Nachhaltigkeit, Green Finance, die wird eine Riesenherausforderung: Zum einen, wird man prüfen müssen, ob Grün drin ist, wo Grün draufsteht und zum anderen müssen auch die Banken trachten, dass sie bei ihren Finanzierungen auf die richtigen Unternehmen und Industrien setzen.

STANDARD: Was ist denn Ihr grünstes Investment?

Ettl: Ich fahre ein Elektroauto.

STANDARD: Einen Tesla?

Ettl: Einen kleinen Tesla. (Renate Graber, 13.6.2022)