Schäkerten lustvoll auf der Bühne: Bassistin Victoria De Angelis und Gitarrist Thomas Raggi der italienischen ESC-Gewinner Måneskin.

Foto: APA/Florian Wieser

Mit Trommel und Hirschgeweih: Das Ritualkollektiv Heilung geht seiner Berufung nach.

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Am zweiten Tag greifen am Nova Rock diverse Aus- und Abhärtungsprozesse. Sonne und Wind trocknen den Schlamm zu einer angenehm weichen Turnmattenunterlage, die zwar Stürze abfedert sowie knie- und rückenschonend wirkt, aber auch ein Odeur entwickelt, das einem die Gummistiefel schnell wieder auszieht, wenn man keinen guten Magen mitbringt. Der Festivalveranstalter hat mittlerweile vorbildlich reagiert und das gesamte Gelände mit Hackschnitzel paniert. So soll’s sein.

Die sogenannte Festivalseelsorge – ein Novum nach zwei Jahren Pandemie – stellt sich bei näherer Betrachtung als psychosozialer Dienst heraus, der mit theologischer Vertiefung ausschließlich auf Nachfrage anrückt. Es wird also keine christliche Propaganda verbreitet, dergleichen ist laut Festivalstatuten ja sogar dezidiert verboten. Die Idee komme aus Deutschland, in Österreich sei man neben dem Nova Rock mittlerweile auch am Electric Love vertreten, sagt eine junge Sprecherin der Initiative, die von der evangelischen und katholischen Jugend ökumenisch getragen wird.

Einsam in der Masse

Es gehe darum, ein Gesprächsangebot zu machen, man werde etwa auch gerufen, wenn es Personen am Gelände offensichtlich schlecht geht. "Ganz viele Menschen fühlen sich nach zwei Jahren Pandemie einsam oder bedroht in der Masse", sagt die Sprecherin. Gut möglich ist aber auch, dass sich Menschen eigentlich eher aufgrund der angenehmen Sitzgelegenheiten zu den Seelsorgern bequemen. Dass sich ein wesentlicher Strang der Rockmusik aus der Ablehnung des Christentums speist, stört die Sprecherin nicht. "Wir können ja auch zu Skillet gehen, das wäre ein Gegenbeispiel", sagt sie.

Skillet, Band aus Memphis (Tennessee), macht seit 1996 sogenannten Christlichen Rock, und spielte bereits in vergangen Jahren am Nova Rock auf. Live hängt man das Christliche nicht unbedingt an die große Glocke. So kommt es dann zu der nicht unkomischen Situation, dass zahlreiche Zujubler ihre "Devils Horns" auch hier gegen die Bühne strecken und sich gar nichts dabei denken. Auch kein Problem, findet die Seelsorge-Sprecherin, je nachdem, wie viel sie getrunken habe, sagt sie, kann es schon vorkommen, dass auch sie die böse Fingergeste macht. Der Teufel ist ja auch irgendwie notwendiger Bestandteil des Systems. Wer nicht gegen etwas ist, kann schwer für etwas sein.

Gruftie-Schick mit Lidstrich

Ganz entschieden mehr auf der teuflischen Seite stehen Måneskin, die Gewinner des Eurovision Song Contest von 2021. Die schönen Italiener machten mit schnörkellos klassischem Rock, Lack und Leder, viel nackter Haut und tiefschwarzem Lidstrich den Gruftie-Schick einer Band wie HIM wieder populär. Zur Überraschung vieler erlitten sie kein typisches ESC-Schicksal, sondern eilten seither weltweit von Erfolg zu Erfolg, als erster italienischer Pop-Act seit Giorgio Moroder sogar in den USA. Am Nova Rock zeigten Måneskin mit einem scharfen Bühnenprogramm, dass Sex zu ihren wichtigsten Verkaufsargumenten gehört.

Das von Måneskin erreichte Energielevel konnten danach vielleicht noch die deutschen Mitglieder von Kraftklub erreichen, die in ihrer Funktion als Sportfreunde Stiller der Generation Z verlässlich ihre Mitsing-Poprockhymnen wie das jüngste "Ein Song reicht" darboten.

KRAFTKLUB

Wer genug Aufmerksamkeitsspanne mitbrachte und sich vom großen Namen des nach fast 30-jährigen Bestehen doch recht blutleeren Wasserleichen-Headliners Placebo nicht täuschen ließ, schenkte den Rest des Abends aber einem Projekt, das wirklich überraschen konnte: Die Band Heilung.

Trommeln, Glocken, Knochen

Das vielköpfige Musikkollektiv aus Deutschland, Dänemark und Norwegen bedient sich paganer Rituale aus der frühmittelalterlichen Wikingerzeit um 1000 nach Christus. Musiziert wird ausschließlich auf selbstgebauten Naturklangkörpern – Trommeln in allen Formen, Glocken, Knochen, primitive Streichinstrumente – und durch Vokallaute, die in wechselnden Soli und im Chor auf Deutsch, Gotisch, Englisch, Latein und Urnordisch vorgetragen werden.

Ein Dutzend wie aus Serien wie Vikings oder Barbaren entlaufen wirkender Kriegerinnen und Krieger geben sich hier Schild und Speer schwingend ein Happening, das jedem Performancekunstfestival zeigen würde, wo der Thorshammer hängt. Dabei legen Heilung bei ihren auf der Bühne vorexerzierten heidnischen Ritualen, die sie eigenen Aussagen nach möglichst historisch authentisch ausüben, heiligen Ernst an den Tag.

Heilung

Hier wird nichts verblödelt und parodiert, es wirkt auch tatsächlich in keinem Moment lächerlich, wenn diese stolzen Frauen und Männer ihren Körperschmuck, ihre Hirschgeweihe und Runentattoos präsentieren, sich barbusig Opferritualen hingeben, stampfen, fluchen und bedeutungsschwer ins Publikum starren. Das Spiel mit Trance, Ekstase und Katharsis geht am Ende in Richtung Barbarentechno, wie man ihn heute nur aus guten Berliner Clubs kennt.

Woran Heilung auf diesem Festival erinnern: Am Anfang jeder Kultur steht das Ritual und mit ihm die Religion, und zwar egal, in welcher Ausformung. Von der Kanzel in der Kirche auf die Bühne eines Festivals ist es oft nur ein kleiner Sprung. (Stefan Weiss, 11.6.2022)