Der spanische Ministerpräsident Sánchez versucht durch den Kurswechsel in der Westsahara-Frage die Beziehungen zu Marokko zu bessern und gerät dadurch in Kritik.

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Algier/Madrid/Brüssel – Im März vollzog Spanien eine überraschende Kehrtwende im jahrelangen Konflikt um die Westsahara. Nun folgen die Konsequenzen: Nachdem der spanische Ministerpräsident Pedro Sánchez den neuen Kurs am Mittwoch vor dem Parlament in Madrid verteidigte, kündigte Algerien prompt am selben Tag den vor 20 Jahren abgeschlossenen Freundschaftsvertrag mit Spanien. Das könnte auch Folgen für die Erdgaslieferungen in die EU haben.

Mit dem neuen Kurs erkennt die spanische Mitte-Links Regierung indirekt an, dass die Westsahara – ehemals spanische Kolonie – ein Teil Marokkos ist. Demnach unterstützt Spanien den Plan Marokkos, die Westsahara als autonome Provinz unter marokkanischer Souveränität anzuerkennen. International ist dieser Anspruch aber bisher nicht anerkannt. Algerien stellt sich gegen Marokko und unterstützt die saharauische "Befreiungsfront Polisario", die für die Unabhängigkeit der Westsahara kämpft. Sie hält rund 20 Prozent der Westsahara und regiert im Exil aus der algerischen Wüste.

Algerien wichtiger Gaslieferant Spaniens

Spaniens Entscheidung trage zur Verschlechterung der Lage in der Westsahara und der gesamten Region bei, teilte das Büro des algerischen Präsidenten mit. Schon im März zog Algerien seinen Botschafter aus Madrid ab, nachdem Spanien eine "neue Phase" in den Beziehungen zu Marokko angekündigt hatte. Der mittlerweile gekündigte, 2002 abgeschlossenen Freundschaftsvertrag zwischen Algerien und Spanien sah eine beidseitige Verpflichtung der Kontrolle der Migration vor.

Zudem hat der algerische Bankenverband angeordnet, Handelsgeschäfte mit Spanien auszusetzen. Banküberweisungen für Importe aus und Exporte nach Spanien sind demnach seit Donnerstag verboten. Der wirtschaftliche Boykott könnte weitreichende Konsequenzen haben, ist Algerien doch der zweitwichtigste Handelspartner Spaniens in Afrika und Spanien der drittgrößte Kunde Algeriens.

Die Gaslieferungen seien von dem Boykott nicht betroffen, wie sowohl Spanien als auch Algerien bekannt gaben. Algerien gehört zu Spaniens wichtigsten Gaslieferanten. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) berichtet unter Berufung auf die spanische Onlinezeitung "El Confidencial" allerdings, dass Algerien die Gasverträge mit Spanien wegen des "Verrats" unter einem anderen Vorwand kündigen könnte. Wegen des Ukraine-Kriegs fänden sich ausreichend andere Abnehmer. Mit der Unterbrechung der Gaslieferungen nach Spanien hatte Algerien schon im April gedroht.

EU will Gaslieferungen aus Algerien aufstocken

2021 importierte Spanien mit 40 Prozent den Großteil seines Erdgases aus Algerien. Mittlerweile ist dieser Anteil auf 30 Prozent gesunken. Nach erneuten Auseinandersetzungen zwischen Marokko und der Polisario stoppte Algerien die Gaslieferungen über eine der zwei nach Spanien führenden Pipelines, die nicht unter dem Meer, sondern über marokkanisches Gebiet verläuft. Mittlerweile liefern die USA das meiste Gas an Spanien. Italien plant indes, die Gasimporte aus Algerien massiv zu erhöhen, um weniger stark von russischem Erdgas abhängig zu sein.

Brüssel prüft gerade im Rahmen des Repower-EU-Plans den Bau einer neuen Gaspipeline von Barcelona durch das Mittelmeer ins norditalienische Livorno, um vermehrt algerisches Gas in die EU zu bringen. Algerien gehört zu jenen Ländern, mit denen die EU ihre Flüssiggasversorgung zukünftig diversifizieren will. Für die EU ist Algerien nach Russland und Norwegen aktuell der drittwichtigste Gasversorger, mit einem Anteil von 12 Prozent des in die EU gelieferten Gases. Inwiefern der Konflikt zwischen Spanien und Algerien diese Pläne beeinflussen wird, ist unklar.

Druckmittel Migration

Laut den spanischen Behörden kommen vermehrt Migrantinnen und Migranten aus Algerien nach Spanien. Alleine am Mittwoch waren 113 Migrantinnen und Migranten aus dem nordafrikanischen Land auf den Balearen angekommen, so viele wie an keinem anderen Tag dieses Jahr. Die Migrationsfrage hatte zuletzt Marokko als Druckmittel gegen Spanien im Westsaharakonflikt eingesetzt, was die diplomatischen Beziehungen der beiden Länder verschlechterte. Im letzten Jahr stellte Marokko die Grenzkontrollen zu der an Marokko grenzenden spanischen Nordafrika-Enklaven Ceuta ein, wodurch Zigtausende, großteils minderjährige Migrantinnen und Migranten nach Spanien kamen.

Die 180-Grad-Drehung löste nicht nur in Algerien Verärgerung aus, sondern auch im spanischen Parlament. Gabriel Rufián von der Republikanischen Linksrepublikanern aus Katalonien, welche die linke Regierungskoalition in Madrid unterstützen, fand die vielleicht klarsten Worte: "Warum verteidigt die Regierung das Existenzrecht des ukrainischen Volkes gegenüber Russland, aber nicht das Existenzrecht der Saharauis gegenüber Marokko?" Und lieferte gleich die Antwort mit Blick auf die Migration: "Weil Mohammed VI. den Schlüssel für die Tür nach Südeuropa hat, an die der Hunger und die Verzweiflung Afrikas anklopfen."

Konflikt "Anlass zu größter Sorge" laut EU

Die Europäische Union hat Algerien wegen der Aussetzung eines Freundschaftsabkommens mit Spanien scharf kritisiert. Diese Maßnahme gebe "Anlass zu größter Sorge" und verstoße möglicherweise gegen das Assoziierungsabkommen zwischen dem nordafrikanischen Land und der EU, insbesondere in den Bereichen Handel und Investitionen, heißt es in einem gemeinsamen Kommuniqué des EU-Außenbeauftragten Josep Borrell und des Handelskommissars Valdis Dombrovskis.

Die Regierung in Algerien wird in dem am Freitag veröffentlichten Dokument aufgerufen, die "Situation rasch zu klären". Der spanische Außenminister erklärte in Madrid vor Journalisten, man wolle die Auswirkungen der algerischen Maßnahme in Ruhe analysieren und anschließend eine "ruhige, konstruktive und entschlossene" Antwort geben. Zuvor hatte sich Regierungssprecher Félix Bolaños zuversichtlich geäußert, dass man die Beziehungen zu Algerien "mit allen diplomatischen Mitteln" bald werde wiederherstellen können.

Wem gehört die Westsahara?

Die Westsahara liegt am Atlantik zwischen Marokko und Mauretanien. Die Region verfügt über große Bodenschätzen und fischreiche Gewässer. Sie war bis 1975 eine spanische Kolonie. Als die Spanier nach der Franco-Diktatur beim Übergang zur Demokratie die Kolonie endgültig aufgaben, annektierte Marokko Teile des Territoriums. Rabat kontrolliert seitdem einen Großteil des dünn besiedelten, aber rohstoffreichen Wüstengebiets.

Erst 1991 kam es zwischen Marokko und der Unabhängigkeitsbewegung Polisario zu einem Waffenstillstand. Seitdem wird im Rahmen der Vereinten Nationen vergeblich eine Einigung gesucht. Seit 2004 lehnt Marokko jeden Lösungsvorschlag ab, der mit der Unabhängigkeit der Westsahara enden könnte. Seit 2007 unterbreitet Marokko dafür einen eigenen Vorschlag: Die Westsahara sollte marokkanisches Staatsgebiet bleiben, aber eine autonome Selbstverwaltung erhalten. Dies lehnen wiederum die Polisario wie auch die Vereinten Nationen und bis vor kurzem auch Spanien ab. (hel, 11.6.2022)